berlinsimferopol

Berlin – Simferopol

Nach 42 Stunden Zugfahrt endlich eine Tasse Instantkaffee 20 Meter vom schwarzen Meer entfernt am östlichen Rand der Krim. Der Kaffee schwarz, das Meer nicht, es schimmert bläulich grau.

06.11., Berlin HBF (tief) – Mit dem Zug von Berlin auf die Krim ist zuvörderst ein Abenteuer auf 1,5 qm Schlafwagenzelle. Die Betten dreifachgestockt, keiner spricht Deutsch oder Englisch. Warum auch. Der Zug ist zusammengestückt aus Wagons diverser osteuropäischer Staatsbahnen, das verraten die rostblasigen Embleme. Wir sitzen im ältesten von allen, der am weitesten fährt. Obwohl wir noch nicht losgefahren sind, haben wir bereits 25 Minuten Verspätung. Die Wagonmatroschka lacht: Speisewagen? Es gibt keinen Speisewagen. Zum Glück sind wir zuerst zu Penny. Von draußen schauen ICE- Deutsche in unseren Wagon und lächeln über die armen Seelen, die in Zügen aus Zeiten der DDR in Zeiten vor der DDR zu fahren scheinen. Wir sitzen mittendrin und trinken schon vor der Abfahrt Schnaps. Noch 42 Stunden.

07.11. – Nach Schlaftablette und Schnaps irgendwo hinter Warschau aufgewacht. Während Bacchus und Morpheus in mir ihr nächtliches Gefecht austrugen, muss der Teufel heimlich die Tür zur Hölle geöffnet haben. Denn war der Zug gestern noch eiskalt, so kocht er jetzt. Die russische Seele mag es heiß. Dörfer huschen nebulös an mir vorbei, abseits der Hauptstraßen ist Straßenbelag ein deutsches Fremdwort. Zum Frühstück warmer Fleischsalat. Polnische Zöllner gehen mit einem kleinen Terrier durch den Zug. Für den Fall, dass das ein Drogen-Terrier ist, packe ich das halbe Notfall-Gramm schwarzen Afghanen lieber in die halbleere Fleischsalatverpackung. Und siehe da, er schnüffelt dran. Aber ist doch nur Fleischsalat. Ukrainische Zöllner gehen grimmig und mit Mützen, deren flache Oberseite als Landeplatz für Drohnen dienen könnte, durch den Zug, während unter uns das Fahrgestell von Männern, deren Arme mal Beine werden sollten, in einer gesicherten Zollhalle auf russische Maße angepasst wird.

Alles dauert ganz furchtbar lange, scheint auch nicht anders möglich, wenn es nicht sogar genau so gewollt ist – ich bemerke, wie schön praktisch, warm, sicher und sauber die EU eigentlich ist, jetzt, wo ich zum ersten Mal draußen bin. Die Wartezeit konnte ich aber zum Beispiel dafür nutzen, am offenen Fenster auf dem Gang zu rauchen und den dreckigen Blaumännern mit ihren Hämmern beim Fluchen zuzusehen sowie mir eine Krankenversicherung für die Ukraine zu kaufen. Für 3,50 – natürlich vollkommen nutzlos. Das wusste sogar die Mutti, die sie uns verkauft hat, aber der Winter kommt und die Leute brauchen ja Geld zum Heizen. Und was sind schon 3,50. Ich kann mir schon das Gesicht des Arztes vorstellen, wenn ich ihm vor der Behandlung das Schreiben reiche, was ich jetzt besitze. Ich behalte es als Andenken an die erste kleine Dummheit.

Ein Blick nach draußen: Russischer Winter, wie ihn Hollywood nicht besser hätte malen können, dabei sind wir gar nicht in Russland. Dunkle, knirschende Stille, kein Stern zu sehen, Schnee schneit schräg, Mütterchen gehen im gelben Schein von Gaslampen in gebückten Mänteln zwischen hochgehackten Frauen und schmutzigen Männern mit hochgestelltem Kragen am Bahnsteig auf und ab und wollen Trockenfisch verkaufen. Keiner blickt fröhlich, geschweige denn mir in die Augen.

08.11. Gen Süden an kilometerlangen Feldern entlang, an einstürzenden Neubauten; umso akkurater stehen die Nadelwälder am Ufer des Dnepr. Ein sehr, sehr breiter Fluss, den ich zuerst als Meer wähne, dann aber vom Abteilnachbarn im Adidas- Anzug und auf russisch als „den“ Fluss der Russen erklärt bekomme. Kurz vor der Ankunft beschuldigt uns die Zugbegleiterin, die uns bis dahin für ein paar Kopeken Tee und Kekse brachte, die Toilette kaputt gemacht zu haben. Der ganze Wagon weiß auch schon Bescheid. Drei Tafeln Schokolade vom Penny bereinigen die Situation. Wie billig.

Nach 2800 Kilometern ohne eine einzige Minute Verspätung und in stillem Gedenken an die Leistungen der Deutschen Bahn Einfahrt in den Bahnhof von Simferopol.  Die erste Minute dieser Stadt ist voll von lautem Staub und bettelnd prunkvoll. Busse mit Oberleitungen, aber kein Handynetz. Trockenfisch, Schminke, Adidas aus China, gebrauchtes Werkzeug, Behinderte, die sich auf einem Brett mit Rollen und zwei Brettern unter den Händen durch den Dreck schieben, das verarmte Gesicht immer auf Höhe der Ärsche der anderen.

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