Lenin

Vielleicht gab es nie eine Reise.

Vielleicht sind es nur einzelne, übrig gebliebene Bilder, geträumt von einem achtjährigen Jungen, Gruppenratsvorsitzender und Vorzeigepionier einer Botschaftsschule, Jahrzehnte später immer noch erinnert. Fuhr er wirklich in Ikarus-Reisebussen von einem Intourist-Hotel zum nächsten? Stand er wirklich mit der Reisegruppe vor einer Weinkelterei, die besichtigt werden sollte, deren Wachmann sturzbetrunken, kaum ansprechbar und nicht gewillt war, weit gereisten Touristen die Tore zu öffnen? Ein noch nicht mal Halbstarker, der die Gerüche der traditionellen Gerichte abstoßend fand, der das Lokal verließ und von einem Bauern einen Gummiball geschenkt bekam? Ein Jungpionier, dessen Aufstieg zum Thälmannpionier mit einer weiteren Umwanderung des einbalsamierten Lenin noch nicht geschehen war. Schenkte ihm wirklich ein armenischer Tanzhengst seine Sonnenbrille mit “Ferarri”-Schriftzug, falsch geschrieben auf das Brillenglas gestempelt, damit er mit der Mutter tanzen durfte?
Findet der Drittklässler 28 Jahre später eine Ecke, die ihm beweisen könnte, dass es Erinnerungen und keine Träume sind?
Manche Erkennungsmerkmale wird es wahrscheinlich nicht mehr geben: Ein in Richtung Horizont blickender Lenin an der Dorfkreuzung. Die Auslagen des Dorfladens leer, vielleicht ein Paar Filzstiefel. Wie die Winterkleidung der sozialistischen Sowjetrepubliken: gefilzt. Eine Gemeinschaft, am Leben gehalten mit Einheitlichem und Einfachem. Eine korrupte Elite neben Strukturen, geplant und wirtschaftlich ineffizient, aber ausreichend. Vielleicht wurde manches erhalten, vielleicht mit anderen Symbolen.
Also nimmt er sich eine neue Reise vor, ohne imperiales Grundgerüst, aber im besten Falle erinnert an einen staunenden Jungen, noch nicht festgedacht und zerklärt.

Der andere Junge stand 1989

in einer nebligen Herbstnacht auf dem Balkon und wartete auf seine Mutter, die gemeinsam mit tausenden anderen Menschen aus einer der zahlreichen Straßenbahn-Sonderfahrten von einer der Montagsdemonstrationen zurück ins Neubaugebiet in Leipzig fuhr. Dieser Junge, behüteter Wandzeitungsagitator, gute Noten, schlechte Manieren, litt schon seit frühester Kindheit unter einem kaum zu stillenden Mitteilungsdrang, den er nur durch Schreiben ein wenig eindämmen konnte. Und dieser Junge geht nun auf die Suche nach dem System, was zusammenbrach, als seine Eltern so alt waren wie er heute. Und wenn auch nur die geringste Chance besteht, sich damit ein Stück um die Welt zu schreiben, dann will er gern versuchen, dem täglichen Gang vom Schreibtisch zur Kaffeemaschine für einen Moment zu entkommen.