Sotchi – Jerewan

Im armenischen Baumarkt habe ich nach langem Suchen endlich die Abteilung mit den Stichsägeblättern gefunden. Diese brauchte ich, um ein fehlerhaftes und dauerhaft knarrendes Brett in den Fußbodendielen unseres Schlafzimmers zu beschneiden, denn der Besitzer des Hostels hat nur eine Stichsäge, keine Sägeblätter. Ich stelle fest, dass ich kein Geld bei mir habe und nehme mir vor, die Sägeblätter zu stehlen, das kann ich gut, denn ich stehle ja oft. Auf dem Weg zur Kasse finde ich in einem der unteren Regale noch schöne, glänzende Glasmurmeln, ich stecke mir noch vier davon ein, eine ist leider zu groß für meine Hosentasche und so fällt sie mir auf dem Weg an der Kasse vorbei auf den Steinfußboden und zerbricht. Der Polizist am Eingang bemerkt natürlich mein schuldbewusstes Gesicht und nimmt mich mit auf die Wache. In diesem Moment klappert die Tür des Nachbarzimmers in unserem Hostel und ich wache auf. Wieder mal totalen Mist geträumt.

Flughafen Sotchi - wie alles hier ein wenig zu leer

Flughafen Sotchi – wie alles hier ein wenig zu leer

Um nach Armenien zu kommen, genauer gesagt nach Jerewan, müssen wir erst mal aus Russland, genauer gesagt aus Sotchi, raus. Unser Pässe werden viereinhalb mal kontrolliert, ein halbes mal freundlich, der Rest besteht aus kritischen Blicken und Fragen, was wir in Armenien wollen und warum wir in der Ukraine waren. Besonders Jens wird auseinandergenommen, weil er versucht, möglichst korrekt auf die Fragen in russischer Sprache zu antworten, ich stelle mich doof, frage einfach immer „In english please?“ und werde in Ruhe gelassen. Danke, Max Demian. Auf der Toilette, auf der ich nochmal schnell pinkeln gehe, riecht es, als habe ein ganzes Bataillon der russischen Armee seine letzte Rauchpause vor der Invasion der Ukraine gemacht. Ein alter, russischer Mann erbricht sich ins Waschbecken neben mir. Als ich ihn frage, ob er vielleicht Hilfe braucht, schaut er mich an, als ob ich ihn bestehlen will und erbricht sich wie selbstverständlich ein weiteres mal. Händewaschen fällt also diesmal aus. Das Flugzeug, ein Airbus A 319, ist nur zu einem Drittel gefüllt, die hübschen Stewardessen bedienen die drei Herrschaften in der Business- Class und die Oma, die kurz vorm Flug einen Kreislaufkollaps bekam und deren Mitflug nur Dank des Heulens ihrer Tochter doch noch zugelassen wurde. Wir hingegen bekommen unsere Getränke von Igor und Anton, das denke ich mir nicht aus! Das Brötchen, das sie uns als Snack zum Tomatensaft reichen, hat drei Scheiben Fleisch und ein Stück Gurke als Inhalt, Vegetarier bleiben eben hungrig. Zum Glück hat uns Igor zuvor noch die Sitze am Notausgang zugewiesen, da muss wohl immer jemand sitzen, wir haben doppelte Beinfreiheit, die drei Girls hinter uns instagrammen fleißig und kichern, wenn wir uns umdrehen, bei der Landung klatschen die Passagiere, der deutsche Pauschaltourismus hat sich also durchgesetzt. Nur noch nicht bei mir.

Blick übers Zentrum von Jerewan

Blick übers Zentrum von Jerewan

Jerewan erwartet uns heiß und freundlich. Eine winzige Kontrolle, schon stehen wir am Taxistand. Die letzte christliche Bastion vor der muslimisch geprägten Pufferzone zwischen Europa und Asien, gemeinhin als Kaukasus bekannt, will uns gleich mit dem dreifachen Fahrpreis abzocken, was auch klappt – zum letzten Mal, denn danach fahren wir nur noch mit Kleinbussen für ca. 20 Cent pro Fahrt. Sobald unsere Mitfahrer unsere Unkenntnis der armenischen Sprache bemerken, wird uns anstandslos geholfen, die richtige Station zu erwischen. Interessant ist auch, dass man nicht beim Einstieg bezahlt, sondern erst beim Ausstieg, was ein gehöriges Grundvertrauen voraussetzt, welches von allen, wirklich allen Fahrgästen wie selbstverständlich erfüllt wird; mir erscheint das als gesellschaftliche Verabredung.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

Neben den tausend Bussen in zig Formen, Farben und Altern besitzt Jerewan eine einzige U-Bahn-Linie, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der dies hier noch die Armenische SSR war, und so wie es aussieht, das letzte, denn ansonsten finde ich nichts russisch Anmutendes außer den üblichen Ladas, einer russischen Minderheit und der russischen Sprache als Hilfssprache, die sich aber mittlerweile ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Englisch liefert, auf dem dritten Platz und – zu meinem Erstaunen – nicht allzu abgeschlagen, liegt Deutsch.

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Bei den Menschen fällt das Aussehen auf; die meist schwarzhaarigen Männer tragen einen oftmals recht tiefen Haaransatz im Gesicht und auch die Monobraue ist weit verbreitet. Manchmal teilen sich drei Männer eine einzige Augenbraue. Die Frauen sind entweder geschminkt wie Kleopatra oder gar nicht, einige von ihnen versuchen, ein europäisches Schönheitsideal nachzuahmen, wobei ich mich frage: warum? Das Leben spielt sich draußen ab, meistens nach Einbruch der Dunkelheit, was den Temperaturen geschuldet sein mag.

Jerewan bei Nacht

Jerewan bei Nacht

Wieder viele Kinder überall, Fahrradverleih auf dem Opernplatz, Café an Café, voller Besucher, wann arbeiten die eigentlich alle? Freundliche Polizisten, Berge im Nebel, alles sehr europäisiert, die Häuser aus festem Stein gebaut, keine Chance und Notwendigkeit für blätternden Putz. Eine Stadt, eingerahmt von Heldendenkmälern mit Schwertern, kargen Hügellandschaften, einer übermächtigen Gedenkstätte zum Genozid durch die Türken, Fernsehturm, Lichter überall.

typisches Wohnviertel im Zentrum

typisches Wohnviertel im Zentrum

Die Lichter sind nicht selbstverständlich, so gab es in Jerewan zwischen 1991 und 1996 täglich nur eine bis zwei Stunden Strom, was einem großen Erdbeben, dem Zerfall der UdSSR und der damit verbundenen Energieknappheit zuzuschreiben ist.PanoramaSeit kurzem gibt es ein staatliches Rentensystem, welches nur wenige wollen, eine Stimme bei der Präsidentenwahl kann für ca. 12 Euro verkauft werden, es gibt keine militärische Kultur in diesem Land und der Genozid schwebt über allem. Aber dazu bald mehr, denn da gibt es noch viel zu lernen für uns.

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