Stalin – und dann?

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Um 18:08 an diesem trüben Mai-Dienstag erleichtert sich mein Darm nach kurzer, aber schmerzhafter Ankündigung in die Toilette im Keller der Sportsbar von Gori in der Stalin-Allee Nr. 11. Die Bar hat Wi-Fi, aber keine Toilettenbürste. Mir ist es recht. Nach mir die Sintflut, muss sich Stalin auch gedacht haben. Gori, die Geburtsstadt von Stalin mitten in Georgien ist eigentlich keine Reise wert, wenn man von Stalin nichts wissen will. Eine Stadt mit ca. 60.000 Einwohnern, viele Häuser rufen: „Reiß mich ab!“, viele Einwohner rufen: „Hol mich raus!“, postsowjetische Tristesse, die sich um den Geburstort eines Massenmörders schart, aber das ist nur mein Eindruck, vielleicht gewinnt ein anderer einen anderen. Die Landschaft ist atemberaubend, Kinder winken uns freundlich zu, das Fußballstadion ist neu und kontrastiert den ruinösen Rummel der Stadt.Nach der Besichtigung des Museums hatten wir noch acht Stunden Zeit, bis unser Nachtzug ins vermeintlich gelobte Batumi am heruntergekommenen Bahnhof der Stadt um 00:01 einfahren sollte. Was tun? Wir kannten niemanden hier. Also schauten wir uns die Festungsruine in der Mitte der Stadt an, oben angekommen fanden wir zwei Polizisten in einem Häuschen aus Weißblech, die sich gerade eine paar Gurken zum Abendessen schälten. DSC02734Toller Ausblick, das war es dann auch. Kurz nach neun betreten wir das „Read-Cafe“ in der Stalin-Allee Nr. 10. Ein angenehmer Platz mit hübscher Einrichtung, man spricht russisch und lächelt uns an. Nachdem wir etwas bestellen und unsere Geräte aufladen konnten, kommt die Inhaberin auf uns zu, fragt nach unserer Nationalität, staunt (Ausländer und speziell Deutsche sind hier nach Schließung der Türen des Museums noch nie gesehen worden) und bittet uns mit einiger Heimlichtuerei ins Obergeschoss. Ich bin skeptisch, laufe aber hinter ihr und Jens die Treppe hoch.DSC02775Oben erwarten mich ein Konferenztisch mit Fahnen verschiedenster Länder, ein kleines, aber professionelles Radiostudio und Computerarbeitsplätze für die Erstellung von Zeitschriften. Sind wir hier beim Widerstand gelandet? Nein, bei Anna, die seit Jahren für eine andere Sicht auf den Konflikt zwischen Georgien, Ossetien und Russland wirbt und für diesen Zweck schon viele Menschen auf der ganzen Welt, bisher jedoch nicht aus Deutschland, werben konnte, leider trotzdem nicht genug, denn das Bild des Georgien-Krieges von 2008 ist, wie ich feststelle, ein sehr einseitiges. Anna selbst scheint eine sehr intelligente, ruhige und zielstrebige Frau zu sein. Das Cafe scheint mir Einnahmequelle, das Radiostudio und die Zeitschriften ihre Profession zu sein. DSC02773Sie will Menschen versöhnen, Mediation ist ein häufig gebrauchtes Wort, Schuldzuweisungen sind von ihr nicht zu hören. Zu ihrer Person bekommen wir nicht viele Informationen, sie ist gebürtige Bulgarin, ihr Mann ist Georgier. Zu Beginn des Krieges sind sie aus einem Dorf in Ossetien in dieses Haus in Gori gezogen. Heute können sie nicht mehr ins Dorf zurück. Dann lächelt sie, das sei genug von ihr, sie will lieber über das Leid, dass anderen Menschen im Georgien-Krieg zustieß, berichten. Aus diesem Grund überreicht sie uns ein Buch, in dem sie die Erlebnisse vieler Menschen mit diesem Konflikt gesammelt hat, über Grenzen und Nationalitäten hinweg. Schade, dass unser Zug gleich fährt, ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und würde am liebsten noch ein paar Tage hierbleiben, aber leider gibt es in dieser Stadt kein Hotel, was um diese Uhrzeit noch geöffnet hat.DSC02776 Also bleibt mir nur eins: Das Buch lesen. Schon nach der ersten Geschichte muss ich absetzen und den Kloß im Hals runterschlucken. Ich hätte diese Sichtweise nicht erwartet, nicht hier, nicht jetzt, und nehme mir vor, nicht nur dieses Buch bis zum Ende zu lesen, sondern es auch ins Deutsche zu übersetzen. Ich denke, das ist nötig. Daher folgt nun, unkommentiert, die Übersetzung der ersten von vielen Geschichten aus dem Buch, dass sich nennt: The Other Picture Of War.

Wer mehr zum Konflikt wissen will, für den lohnt ein erster Einstieg hier:

http://de.wikipedia.org/wiki/Kaukasuskrieg_2008

http://de.wikipedia.org/wiki/Südossetien


Der Retter

Er ist mein Freund und ich werde immer für ihn beten

Im August 2008, als der Krieg in Zchinwali wütete, war das Untersuchungsgefängnis der Stadt gefüllt bis auf die letzte Zelle; mehr und mehr friedliche georgische Einwohner wurden dorthin gebracht und gefangengenommen. Man konnte sogar alte Ehepaare unter den Gefangenen erblicken. Während die Frauen noch einen gewissen Eindruck von Stärke vermittelten, konnten viele Männer, besonders die mit Herzerkrankungen, die unerträgliche Hitze, die Gewalt und die Demütigungen kaum ertragen. Luiza Nasuashvili und ihr Ehemann waren ebenfalls in einer der Zellen gefangen.
Das Ende der Kampfhandlungen liegt nun schon eine Weile zurück und sie erinnert sich an ihre Heimatstadt Zchinwali mit Tränen in ihren Augen. Luiza lebte in Zchinwali bis 1991, das Jahr, als erstmals Kampfhandlungen zwischen Georgien und Ossetien stattfanden. Durch diese Situation sah sie sich gezwungen, nach Tamarasheni zu ziehen, aber sie verließ ihre Heimatstadt nicht völlig; sie arbeitete weiterhin als Buchhalterin in einer Fabrik. Anfangs fürchtete sie, man würde sie als Georgierin aufgrund des Konflikts entlassen, aber ihre Ängste wurden nicht bestätigt. Niemand belangte sie in Zchinwali aus diesem Grund.

„Im August 2008 konnte ich mein Haus nicht verlassen. Die Situation war sehr gefährlich für mich, aber wohin sollte ich denn gehen? Ich hatte meinen kranken, schwachen Mann bei mir. Mir blieb nur die Hoffnung, dass sie die friedliche Bevölkerung nicht überfallen und ausplündern würden. Unglücklicherweise war diese Hoffnung trügerisch und die Situation endete tragisch.
Ossetische Soldaten erreichten unser Haus am 10. August; an einem Stützpunkt nahmen sie meinem Mann und mich mit ins Untersuchungsgefängnis nach Zchinwali. Mein Mann wurde immer schwächer in meinen Armen; durch den Stress und die Anspannung stieg sein Blutdruck rasant an. Es ging ihm schlechter, Stunde für Stunde, wir benötigten unbedingt Medizin für ihn. All meine Versuche waren erfolglos; die Situation dort war so ausweglos, dass ich nicht einmal jemanden um Hilfe bitten konnte. Andere Gefangene waren in noch schlechterer Verfassung. Immer wieder holten sie Menschen aus den Zellen und schlugen sie mehrfach zusammen. Bisher hatten sie uns noch nicht angefasst und hatte ich große Angst, um Medizin zu bitten, da ich keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Doch als sich die Verfassung meines Mannes weiter verschlechterte und ich um sein Leben fürchten musste, entschied ich, dass es keine Wahl mehr sei, sich zu verstecken. Ich fasste den Entschluss und fragte einen der ossetischen Bewacher nach etwas Medizin. Er schaute mich böse an und schrie: „Vielleicht soll ich ja noch einen Krankenwagen rufen?!“ Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, ich wusste nur, dass mein Mann sterben würde.
Eine Weile später kam derselbe Bewacher auf mich zu und sagte mir in harschem Ton, ich solle mit ihm kommen. Ich folgte ihm aus Angst und brachte kein Wort heraus – doch er gab mir ein Päckchen blutdrucksenkende Mittel. Ich werde mich bis zu meinem Tod an das Gesicht des Mannes erinnern, als er mir die Medikamente gab; er schaute mir nicht in die Augen, hinter einem Checkpoint schrie er mir noch nach, ich solle mich wieder zurück an meinen Platz bewegen. Ich eilte zurück und umarmte meinen Mann. Ich weinte, ich weinte vor Freude und Erleichterung. Mein Mann war gerettet und ich wurde Zeuge von Menschlichkeit im Krieg. Ich war froh, dass der Krieg nicht die Menschlichkeit des Bewachers ausgelöscht hatte – er war nur böse zu mir, um vor seinen Kameraden keinen Verdacht zu erregen. Das Leben meines Ehemanns hing in diesem Moment von seinem Verhalten ab.
Dieser Mann ist mein Freund für alle Zeiten und ich werde weiter für ihn beten. Kannst du dir vorstellen, wie viel mehr Elend auf dieser Welt wäre ohne solche Menschen? Seit diesem Tag denke ich, dass Krieg ein Schmerz für alle Menschen ist.“

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