hntrlnd » Ruinok http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Mit dem Trolleybus zum Osh-Basar http://www.hntrlnd.de/?p=961 http://www.hntrlnd.de/?p=961#comments Sun, 08 Jun 2014 05:28:52 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=961 Kirschen für ne Mark

Kirschen für ne Mark

Steigst du in einen Trolleybus ein, dann merk dir die Station, die als nächstes kommt, um auf dem Rückweg genügend Zeit zu haben, dich durch die stehenden Fahrgäste zum Fahrer zu zwängen und rechtzeitig passendes Kleingeld bereitzuhalten, bevor du aussteigst. In meinem Fall waren das acht kirgisische Som, also ca. zehn Cent und die Haltestelle am Sportplatz auf der linken Fahrbahnseite, kurz nach der Autowerkstatt, wo die Teppiche zum Trocknen draußen hängen.

Ich bin zum Osh-Basar in Bischkek gefahren mit dem Trolleybus Nr. 4, um was zum Abendessen zu besorgen, einmal quer durch die Stadt. Feste Abfahrtszeiten Fehlanzeige, die Busse kommen in leicht unregelmäßigen Intervallen, die schlicht vom Verkehr abhängen. Am Rand des Basars ein großer Topf auf einem alten Kinderwagengestell, in dem Rindernieren, -herzen und -lebern mit Kartoffeln und Zwiebeln vor sich hin köcheln. Ich probiere, eine Portion kostet 30 Som, ich bestelle kurz vor Ladenschluss für 100. Die Verkäuferin schaut mich erschrocken an und fragt: „Sto?“ Ich sage: „Da, sto! Otschen fkusna!“ („Ja, 100! Sehr lecker!“) Sie hätte wohl nicht erwartet, dass ich Arme-Leute-Essen bestelle, ich bin schließlich Inostranez, Ausländer. Sie flüstert etwas zu ihrer Topfnachbarin, die Pelmeni verkauft, auch diese schaut erstaunt. Aber ich bekomme mein Essen in einer prallen, nach Innereien duftenden Plastiktüte.

Innereien mit Kartoffeln

Innereien mit Kartoffeln

Mit Kopfhörern, Sonnenbrille und Mütze vor den Ansprachen der Verkäuferinnen in der Gemüsehalle versiegelt, entscheide ich mich für die junge Mutter, die Salate verkauft. Die Mütze habe ich für zwei Euro von einem alten Opa gekauft, ich musste das größte Modell nehmen und selbst das passt knapp.

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Der Autor mit seiner neuen Mütze

Ich probiere alles durch und nehme den scharfen Möhrensalat, den mit Möhren und Soja und den mit leckeren Gemüse, was ich nicht identifizieren und die Erklärung dazu nicht übersetzen kann. Egal, schmeckt lecker, mit viel Essig. Ich mit meiner gerade überstandenen Gastroösophagitis sollte das eigentlich nicht essen, aber wer weiß, wann ich nochmal dazu komme.

Die junge Salatmutti

Die junge Salatmutti

Noch zwei Weißbrote für 25 Som, Schnaps haben wir noch zuhause und ich sprinte mit meinen Tüten zurück in die Moskovskaja, dort fährt die Nummer Vier zurück nach hause. Bevor das Fleisch kalt wird. Der Stand mit Zeug In der Trockenfruchtecke Warten auf Godot Weinender Bettler
Im Bus mustern mich zahlreiche Blicke aufgrund der Gerüche aus meiner Tasche. Diese scheinen nicht zu meinem fremdländischen Aussehen zu passen. Alten Frauen wird selbstverständlich ein Sitzplatz freigemacht, neben mir will nur ein alter, dicker Mann sitzen, der sich nach drei Stationen lieber woanders hinsetzt. Als ich aussteige und 20 Som Fahrpreis an den Fahrer reiche, werde ich gefragt: „Adin?“ („Einer?“) Ich schaue mich um und frage: „Tui vidjesch dwa ljudei?“ („Sehen sie zwei Leute?“) Ich bin der letzte Fahrgast, der Busfahrer ist ob meiner Frechheit erbost. Habe mich wohl nicht an eine mir unbekannte Fingerzeig- oder Nennregel gehalten, was die Bezahlung der Fahrt betrifft. Es gibt Anschiss, den ich nicht verstehe, ich bedanke mich so freundlich es nur geht für den Hinweis und steige aus. Gut, dass ich mir den Sportplatz gemerkt habe; schlecht, dass ich vergessen habe, dass noch eine Station zwischen dieser und meiner liegt, so muss ich nun laufen. Schnell in eine Marschrutnaja springen, fällt aus, ich habe im Trolleybus überhebliche 10 Som Trinkgeld gegeben und nun nicht mehr genug Geld, also muss ich laufen. Neben mit her laufen die Hunde der Nachbarschaft, denn die Innereien aus der Tüte riechen einfach zu lecker. Ich werfe ein paar Streifen Möhren hin, das finden sie doof und bellen. Schnell nach Hause, an den Hanfpflanzen am Wegesrand vorbei. Bevor das Fleisch kalt wird.

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Akmal, Taschkent, Usbekistan http://www.hntrlnd.de/?p=907 http://www.hntrlnd.de/?p=907#comments Thu, 29 May 2014 12:56:04 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=907 Das Atlas-Hotel wurde vor zwei Monaten eröffnet

Das Atlas-Hotel wurde vor zwei Monaten eröffnet

Akmal ist Anwalt und hat das Atlas-Hotel mitten in Taschkent bauen lassen, in welchem wir fünf Tage übernachten. Es ist sein Design, das ist ihm wichtig zu erwähnen. Die großen etablierten Hotels sind viel teurer, man kann aber den gleichen Komfort bieten zu geringeren Preisen. Natürlich möchte er weiter über die Vorteile seines wirklich gelungenen Hotels erzählen, aber mich interessieren ja meist andere Fragen als jene, die verkaufsfördernde Antworten provozieren. So viel sei gesagt, das Hotel ist durchdacht, unser Zimmer ist fast unökonomisch groß, der Komplex hat zwei Stockwerke und bildet kreisförmig einen schattigen Hinterhof, den man bereits Ende Mai unbedingt in dieser Stadt braucht. Alte Türen und Fenster wurden saniert und erhalten. Hier hat sich jemand Gedanken gemacht.

Akmal - erfolgreich und stolz auf sein Land

Akmal – erfolgreich und stolz auf sein Land

Ich frage ihn nach seiner Meinung zu Usbekistan und wir kommen ins Gerede. Im folgenden seine, wie ich denke, patriotische, aber teilweise reflektierte Meinung: Das Land hatte, gegenüber anderen Staaten in Zentralasien einige Vorteile. Es musste nach dem Zusammenbruch der UdSSR keine Schocktherapie durchmachen, wie zum Beispiel Kasachstan. Durch die recht willkürliche Grenzziehung und Bildung der Sowjetrepubliken wurde Usbekistan, im Gegensatz zu seinen Nachbarn, auch hinsichtlich der Ressourcen bevorteilt. Es gibt Wasser und blühende Landschaften östlich von Taschkent, die einen Anbau von Nahrungsmitteln ermöglichen und Usbekistan zum Selbstversorger zu machen. Die Anrainerstaaten haben nicht diese Grundlagen.

Amir Temur -  Weltenbezwinger und Nationalheld

Amir Temur – Weltenbezwinger und Nationalheld

Dies war vor dem 20. Jahrhundert nicht so relevant wie heute, denn erst die sozialistische Grenzziehung und der Zusammenbruch der UdSSR machten souveräne Staaten aus den Volksgruppen, die vorher recht lose Gesellschaftssysteme in Zentralasien bildeten. Usbekistan hat also schon aufgrund seiner Lage die Möglichkeit eine stabile, eigenständige Ökonomie zu entwickeln. Es gibt seit Jahrzehnten wirtschaftliche Kooperationen mit Südkorea, China kommt als wichtiger Partner nun dazu, interessiert am Gas und ausgestattet mit der Technologie, die es verarbeitet und zur Verfügung stellt. Anders als einige Länder in Afrika ist Usbekistan dabei ein gleichberechtigter Partner, denn es bietet die Ressourcen und kauft Technologie. Die Regierung achtet stark auf die wirtschaftliche Souveränität des Landes.

Schmiedearbeiten neben dem Bazar

Schmiedearbeiten neben dem Bazar

Anders als in Kasachstan wird hier die Ausbeutung der Ressourcen nicht an Investoren verkauft, sondern sie werden beteiligt. Ein Beispiel: Die Straßen Taschkents sind voller Daewoos, genauer gesagt „Uz-Daewoo“, ein Südkoreanisch-Usbekisches Joint Venture, dessen usbekische Fabriken sich „Uzawtosawod“ nennen. Seit 2008, mit dem Aufkauf von Daewoo durch General Motors nennt sich die Marke „GM Uzbekistan“. Anstatt des Daewoo-Logos klebt nun das der GM-Tochtermarke Chevrolet an der Motorhaube. Der Plan von Uzawtosawod ist es, die gesamte Teileproduktion in Usbekistan zu ermöglichen – ohne lange Transportwege könnten günstige Autos für ganz Zentralasien produziert werden.

Auf dem Chorsu Bazar gib es alles in rauhen Mengen und günstig

Auf dem Chorsu Bazar gib es alles in rauhen Mengen und günstig

Durch den Reichtum des Landes ist auch die Steuerpolitik extrem moderat. Der höchste Einkommenssteuersatz liegt unter 20 Prozent, eine Mehrwertsteuer im europäischen Sinne gibt es eigentlich nicht. Man findet in dem Land kaum Geldautomaten, Usbekistan ist dabei, seine Währung unabhängig vom weltweiten Geldsystem zu etablieren. Nachdem sich der Dollar als zweite und stabilere Währung im Handel (zum Beispiel beim Autokauf) durchgesetzt hatte, wurde er nun für den inländischen Handel verboten. Dollars oder Euro in der Tasche sind strafbar. Der usbekische SOM hat eine hohe Inflationsrate, für einen Euro gibt es heute 3200 SOM, im nächsten Monat wird es noch mehr sein. Man rennt also mit riesigen Bündeln von Geldscheinen durch die Straßen, der größte Schein hat einen Wert von 5000 SOM, nicht mal zwei Euro, und wird seit dem letzten Jahr gedruckt.

Feierabend auf dem Basar - das eingenommene Geld ist wenig wert und füllt Tüten

Feierabend auf dem Basar – das eingenommene Geld ist wenig wert und füllt Tüten

Akmals Meinung zur Inflation ist auch patriotisch und er hat eine recht lässige Position. Ja, es gibt eine hohe Inflationsrate und die Regierung versucht alles, um sie so gering wie möglich zu halten, allerdings stellt sich beim SOM ohne weltweite Verkettung das dar, was passiert, eine Entwertung des Geldes. Abgesehen von den vielen Geldscheinen und Nullen beeinflusst die Inflation aber nicht die usbekische Gesellschaft. Seiner Meinung nach hat die Bankenkrise Usbekistans Alltag nicht betroffen, weil er eben autark funktioniert. Eine Diskussion über den finanziellen Protektionismus, an welchem sich das autoritäre Regime gut darstellen lässt, brauche ich mit ihm wohl nicht anzufangen. Mir sitzt ein erfolgreicher Geschäftsmann gegenüber, der seine Sicht mitteilt und er hat wenig zu beklagen. Er erzählt von einem Studienfreund, der nach Europa gegangen ist und immer noch eine Wohnung mietet, also in Europa nicht das erfolgreiche Business aufgebaut hat, wie er selbst in der gleichen Zeit in Taschkent.

Transporter

Transporter

Der russisch-amerikanische Konflikt verursacht seiner Meinung nach einen negativen Einfluss auf die usbekische Gesellschaft. Beide Seiten seien an einem destabilisierten Zentralasien interessiert um es militärisch und strategisch für sich vereinnahmen zu können. Auch bei den kirgisischen Übergriffen auf usbekische Siedler an der Grenze hätten die Großmächte keinen friedenssichernden Einfluss gesucht. Es sei der rücksichtsvollen usbekischen Politik zu verdanken, dass der Konflikt nicht weiter eskaliert ist. Obwohl die starke usbekische Armee ohne Probleme innerhalb weniger Tage Kirgistan einnehmen könnte, hat man sich zurückgehalten und Kompromisse geschlossen.

Müllverbrennungsanlage

Müllverbrennungsanlage

Spätestens an dieser Stelle ist es für mich ersichtlich, dass Akmal durchaus meinungsbildend argumentieren möchte und seine weiteren Ausführungen, die Usbekistan als den letzten vernünftig denkenden Rückhalt in einer dualistischen Welt darstellen, sind mir ein wenig zu verschwörungstheoretisch.
Meine Impressionen aus Taschkent bezeugen aber auf jeden Fall ein anderes Bild, als es die verängstigten europäischen Vorurteile vermitteln wollen. Die kulturellen Wurzeln und die Altstadt wurden in den sechziger Jahren des letzte Jahrhunderts durch ein Erdbeben zerstört. Der sowjetisch gelenkte Wiederaufbau prägt bis heute das Stadtbild, große Straßen, weite Plätze, siehe Kharkiv.

Sozialistische Großraumarchitektur - davor staunender Dirk

Sozialistische Großraumarchitektur – davor staunender Dirk

Hier lebt auch eine bereits im Stalinismus forcierte, weil hierher gelenkte multiethnische Gemeinschaft. Viele Koreaner sind im Koreakrieg hierher „geflüchtet worden“. Es gibt für alle Arbeit, viele Stunden, wenig Einkommen, aber doch ausreichend. Geschäftsideen werden schnell zugelassen, der große Schosun Bazar zeugt von dem Überangebot an Waren. Kaum Bettler, aber Devisentauschangebote an allen Ecken, in der Hand die Plastiktüte voller Geldscheine. Laut Gesetz strafbar, trotzdem Alltag. Auch wir tauschen hier unser Geld. Schüler fallen durch die einheitliche Schulkleidung auf: Hemd/Bluse weiß, Hose/kurzer Rock schwarz. Schulen und Krankenhäuser sind kostenlos. Als Hauptstadt eines moslemisches Landes fällt Taschkent nicht auf, auch der gern propagierte Polizeistaat ist im Stadtbild nicht ersichtlich. Polizisten finden wir an den Eingängen der Metrostationen, unsere Taschen werden durchsucht, die Kopien unsere Pässe werden begutachtet, es gab Anschläge.

Polizeikontrolle am Metroeingang

Polizeikontrolle am Metroeingang

Polizisten dürfen nicht fotografiert werden, ich frage einen, er sagt „nelsja“ und lässt mich dann doch ein Foto schießen. Abgesehen vom Schulzwang, der besonders Kinder ärmerer Bevölkerungsschichten aus dem familiären Geschäft in die Schulen holt, bekomme ich in den fünf Tagen den Eindruck von einer freien, stark säkularisierten Gesellschaft, ein weiterer Tigerstaat, der sich erfolgreich, wenn auch mit teilweise autoritären und fragwürdigen Methoden den weltwirtschaftlichen Profitinteressen verweigert. Eine stabile, sozial verantwortliche Gesellschaft, die auch ohne westliches, oder russisches Wertesystem funktioniert. Akmal sagt dazu nur: „Russland? Das schaut sich doch bei uns ab, wie man einen Sozialstaat aufbaut.“

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Der Versuch, zu verstehen http://www.hntrlnd.de/?p=296 http://www.hntrlnd.de/?p=296#comments Thu, 17 Apr 2014 19:13:44 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=296 Das dritte AugeAls ich versuche, die Oper der Stadt in meine 50mm Festbrennweite zu stopfen, was an ihrer schieren Größe und der Starrheit meines Blicks scheitert, werde ich angesprochen. Erst auf ukrainisch, ich verneine nett in russisch. Dann in russisch. Ich verneine wieder. Dann polnisch. Dann englisch. Jetzt verstehe ich. Ein „Guide“ bietet uns seine Dienste an, die ich nach kurzem Verhandeln auch annehme.
Was ich lerne:
Lviv hat ca. 800.000 Einwohner, die sich in einer der über 100 Kirchen und Kathedralen der Stadt die Segnung in diversen Glaubensrichtungen abholen können. Ukrainische Katholiken, armenische Christen, Kopten, Russisch-orthodoxe, Griechisch-Orthodoxe und noch viel mehr. Mein atheistisches Verständnis reicht in Glaubensfragen aber nicht sehr weit, muss ich zugeben. Eins verstehe ich: Die Stadt ist seit Jahrhunderten ein riesiger Schmelztiegel aus Religionen und Ethnien, die sich vermischten oder auch nicht, die sich vertrugen oder auch nicht, die sich gegenseitig umbrachten oder auch nicht. Besonders bemerkenswert sind die Armenier, die sich ab dem 14. Jahrhundert erfolgreich in Lviv etabliert hatten, mit eigener Rechtsprechung, einem eigenen Viertel, einer eigener Akademie. Heute sind davon nur noch gepflegte Reste vorhanden. Ob das mit dem Genozid durch die Türken zu tun hat oder mit dem Stalinismus, mag ich nicht beantworten, bevor ich nicht in Armenien war. Vorm 2. Weltkrieg gab es zudem eine große jüdische Gemeinschaft; von den ehemals 100.000 Juden sind heute alle tot oder weggebracht und nie wieder zurückgekehrt. Was bleibt, ist eine Ruine und ein Restaurant, was zwar nicht koscher kocht, aber immerhin eine Menora am Eingang stehen hat. Vielleicht ist der Kellner ja wenigstens beschnitten.

Reste der jüdischen Synagoge Jüdisches Graffito in Lviv Vor Ostern wird geputzt! Armenische Kirche Geister kennt doch jeder Hallo Echo. Weiß, die Farbe der Reinheit Blau, die Farbe der ukrainischen Katholiken

Im besten Hotel der Stadt soll mal der Schah von Persien für eine Woche mit seiner Familie untergebracht worden sein. Als es ums Bezahlen des eigens für ihn geräumten Hotels ging, schlug er vor, statt Geld eine Auszeichnung zu verleihen. Daraufhin brach wohl die gesamte Führungsetage des Hotels in Geheul aus. „Bloß keine Auszeichnung, wir wollen lieber Geld!“

Als ich zum Schluss noch ein wenig rumkumpeln will und mich auf russisch bedanke, bekomme ich mit einem scharfen Lächeln unseres Guides Igor die ukrainische, korrekte und gewünschte Variante genannt, die ich mir aber leider nicht merken konnte, lediglich einmal nachplappern. Wenn mal jemand einen guten Guide in Lviv braucht: hier gucken

Was ich selbst sehen konnte: In Lviv finden sich keine Windräder, keine Solarzellen, keine Fahrradfahrer (außer ein paar Jugendlichen, die ihr Fahrrad in Abwesenheit eines eigenen Autos mit Baumarkt-Ersatzteilen aufrüsten), keine Supermärkte, keine Vorfahrt für die rostige Straßenbahn.

Es finden sich auch keine adipösen Menschen außer ein paar beleibten Babushkas und Polizisten, und das, obwohl es kein „Bio“ gibt, keine westeuropäische, als modern behauptete Luxusaskese. Während wir nach Wohlbefinden suchen durch Weglassen, scheint sich Gesundheit hier in erster Linie über den Zugang zu Nahrhaftigkeit zu definieren. Es wird in Fett gebacken, Speck wird am Stück gegessen, Transfette werden hingenommen, Fleisch ist gut und billig.
Was sich ebenfalls nicht findet, sind Lenin-Statuen, die ich erwartet hätte. In der gesamten West-Ukraine soll es wohl keine mehr geben nach den „derzeitigen Ereignissen“, wie man das hier nennt.
Dafür finden sich an jeder Ecke Kinder, allein, ohne Eltern, welche um sie rumhelikoptern oder mit dem Smartphone Bilder zum Angeben bei anderen Smartphone-Eltern schießen. Die Kinder spielen einfach so, ohne Internetverbindung, auf Spielplätzen, deren rostige Metallstangen und abgeblätterte Bleifarbe jedem Sicherheitsbeauftragten in Deutschland den Job kosten würde, wenn das nicht sofort abgesperrt würde.

Auf dem Rynok dann alte Frauen, die Milch in gebrauchten Pepsi-Flaschen und selbstgepflückte Blumen feilbieten. 150 Gramm gesalzener Speck für neun, ein Stück Käse für 13, 500 Gramm besten Schinken für 60, ein großes Weißbrot für fünf Griwna. Macht 87 Griwna, also ca. sechs Euro. Das hätte nicht für den Schinken gereicht in Deutschland. Es hätte ihn auch gar nicht gegeben, da er so lecker schmeckt, das muss was drin sein, was bei uns nicht erlaubt ist.

Eins lerne ich dann aber doch noch: Wenn ich frage, ob etwas erlaubt ist, dann ist es verboten. Wenn ich nicht frage und einfach mache, dann ist es zwar immer noch nicht erlaubt, aber keiner stört sich dran.

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Gde nachoditsa Wogsal? http://www.hntrlnd.de/?p=284 http://www.hntrlnd.de/?p=284#comments Thu, 17 Apr 2014 18:32:54 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=284 header
Halbzehn, auf zum Bahnhof, Zugtickets kaufen. Die grobe Richtung kennen wir, gestern waren wir bereits da, ich stellte mich am ersten Schalter an und erfuhr dort, welcher Schalter der richtige gewesen wäre, also Anstellen bei Schalter Nummer Neun. Beim Anstehen kommt es auf die richtige Erziehung an, einmal noch kurz die Freiheit einatmen und dann stehen, in der Schlange, Geduld üben, langsam ein- und ausatmen. Dirk fing schnell an herumzutänzeln: “Ich geh rüber zur Information, da ist keine Schlange. Ich frag mal, ob wir das auch online machen können.” Nach kurzer Zeit kam er zurück mit einem Zettel: “Hier, hör auf hier rumzustehen, die Angestellte war sehr freundlich und hat mir alles aufgeschrieben.” Also ab ins Domizil, online buchen. Es regnete heftig, wir nahmen ein Taxi. Der Taxifahrer gab 50 Grivna als Beförderungspreis an, wir fuhren los, ich redete mit Dirk Belangloses.
“Crash, zwei Autos.” sagte der Fahrer.
“Du redest deutsch?” fragte ich. “Hmm”, antwortete er “keine Praxis”
“Und woher?” “Vater arbeitete früher im Reich.” dabei umkurvte unser Fahrer milimetergenau Busse. “1941, fünf Jahre hat Vater gearbeitet im Reich.” Er grinste, wenn er ‘Reich’ sagte.
“Musste er arbeiten?” fragte ich. Er guckte fragend zurück.
“On dolschen rabotatch, ili on rabotal?” “Rabotal!”
Bei der Netzbuchung stellte Dirk fest, das man nur mit Kreditkarte zahlen kann. Wir haben keine und waren sauer. Auch Vorbuchen war nicht möglich. “Erste Maßnahme nach dem Aufstehen, wieder zurück zum Bahnhof.” stellten wir fest. “Ich stelle mich an und Du machst irgendwas anderes.” sagte ich zu Dirk.
Die grobe Richtung kennen wir also, ich schreite voran. Dirk hat Hunger, ich auch. “Ich würde gerne erst die Tickets erledigt haben” sage ich und schlage voranschreitend die Straßen vor, die wir nehmen sollten. Die grobe Richtung kennen wir ja, allerdings habe ich mich schnellstens komplett verlaufen.
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An der Polnischen Botschaft stehen schätzungsweise 200 Menschen. Ein etwas entfernt stehender Bauwagen bietet die Erstellung von Passbildern an. Vereinzelt werden wir auf Ukrainisch nach Etwas gefragt, was sich mir nicht erschließt, ich verstehe die ganze Ansammlung nicht und ich will zum Bahnhof. Viel zu spät bemerken wir, dass der inzwischen eingeschaltete Handyroutenplaner uns wohl eher zum Güterbahnhof lenkt. Das Industriegebiet, das vor uns liegt, ist Hinweis genug für Dirk, eine solche Vermutung zu äussern. Ein längst ungebrauchter Wasserturm steht zwischen hohen, wilden Bäumen.
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Der Taxifahrer an der nächsten Bushaltestelle bringt uns gerne zu unserem eigentlichen Ziel. Im Radio mit russischer Moderation werden die Präsidentschaftskandidaten vorgestellt, der Fahrer bekreuzigt sich.
“Kto tui dumaesch, budet Präsident?” frage ich ihn. “Poroschenko” ist seine Antwort. “I komu tui chotschesch?” “Nu, Poroschenko.”
Ich befrage ihn im gebrochenen Russisch ein wenig weiter und er antwortet: Als er klein war, ist er mit seinen Eltern oft auf die Krim gefahren. Er würde gerne auch mit seinen Kindern da hin, aber das geht ja nun nicht mehr. Putin hat die Situation verursacht. Natürlich gibt es einen Apparat, aber Putin bleibt am Ende der Verantwortliche. Zur Nato kann er nichts sagen. Ja, mit der Zeit könnte das Miliär die Macht in Russland übernehmen, wenn es so weitergeht. Nein, einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird es nicht geben.
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Vor Schalter Nummer Neun stehen zwei Kunden. Ich bin beruhigt, Dirk bestimmt auch. Es geht schnell, ich kaufe zwei Tickets für die Fahrt nach Odessa. Die Englischkenntnisse der Schalterfrau reichen aus. Irgendwie ist mir gerade nicht nach Kommunikation auf Russisch.

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