hntrlnd » Odessa http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Odessa – Kharkov http://www.hntrlnd.de/?p=477 http://www.hntrlnd.de/?p=477#comments Wed, 23 Apr 2014 21:48:16 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=477 Deschurnaja

Deschurnaja

“Junge, bleib stehen!” kreischt es aus einem kleinen Fenster am Eingang des Wartesaals. Ich registriere erst gar nicht, dass ich gemeint sein könnte. Ich drehe mich doch Richtung Fenster, als das Kreischen lauter wird.
Eine schätzungsweise Ende Vierzigjährige Deschurnaja mit hartem Blick, mit strahlend rotem Stift geschminkten, schmalen Lippen mustert mich: “Zeigen sie mir ihre Fahrkarte!” “Zeige ich Ihnen” sage ich “Die Fahrkarte ist da hinten im Wartesaal.” Ich zeige auf unsere Rucksäcke, sie verdreht die Augen. Also komme ich mit meiner Fahrkarte von unseren Sitzen zurück, sie nimmt diese kurz in die Hand und gibt sie mir dann sofort wieder: “Sie müssen die Karte vorzeigen, wenn sie den Wartesaal besuchen wollen!” sagt sie in spitzem Ton.  Seltsam, dass sie uns nicht bemerkte in den letzten zwei Stunden. Natürlich hatte ich in der  Zeit mehrmals den Raum verlassen, um eine Zigarette zu rauchen und um Dinge für die Zugfahrt zu kaufen. “Entschuldigen sie, das wusste ich nicht.” sage ich in dem Ton, den ich für den richtigen halte, gegenüber einer höhergestellten und Macht besitzenden Person. “Das sollten sie aber wissen!” antwortet sie. “Jetzt weiß ich es ja!” belle ich dann doch zurück und drehe mich mitsamt der Fahrkarte weg von ihr und hin zu unseren Rucksäcken.
Als wir uns Richtung Zug begeben, sage ich zu ihr, dass ich es wirklich nicht mitbekommen habe, dass man erst seine Fahrkarte zeigen müsse, um den Wartesaal zu betreten und frage sie, ob ich ein Foto von ihr machen könnte. “Natürlich können sie Fotos von unserem schönen Bahnhof machen.” antwortet sie lächelnd. “Nein” sage ich “Ich würde gern ein Foto von Ihnen machen und Ihrem Arbeitsplatz.” “Aber warum?” fragt sie “Was ist denn der Sinn?” “Nun, ich will es dokumentieren.” sage ich “Nur für Ihre Freunde?” fragt sie. “Ja genau,” antworte ich “es geht ja auch ganz schnell”.  Sie will noch kontern und sagt etwas über den kleinen Raum und dass es doch nicht angemessen sei, aber da mache ich schon das Foto. Ich zeige es ihr “Gar nicht mal so schlecht.” kommentiere ich, sie lächelt und winkt zum Abschied.

Bahnsteig Odessa

Bahnsteig Odessa

Die Zugfahrt nach Kharkov ist Anfangs von verständigenden Blicken zwischen Dirk und mir geprägt. Das Vierer-Abteil besetzen wir wieder auf den oberen beiden Liegen. Zwei Frauen begleiten uns auf den unteren Liegen, auf dem 700 Kilometer langen Weg.
Während die eine, schätzungsweise Siebzehnjährige, vor sich hintechnisiert mit I-Pad und Kopfhörern, sitzt dort auch die Mitte Zwanzigjährige Schönheit, deren Konterfei wir vielleicht schon auf Straßen begegneten, aber welche bisher nicht in unserem Zugabteil saß. Also male ich schlechte Zeichnungen mit Kugelschreiber, ich will sie auch fotografieren, sie ist sofort mit der Hand dazwischen, mein Fotoapparat ist einer der schnellsten, aber nicht schnell genug für die Reaktionszeit ihrer Hand, die sich vor das Objektiv legt.
Nach ihrem Mathematikstudium studiert sie nun Sport in Kharkov. Bringt das Geld? Nein. Wieviel verdient man im Fitnessstudio? 100 Euro monatlich, in der Verwaltung, die ist besser bezahlt, als eigentliches Fitnesstraining. Was denkt sie über Deutschland? Gutes Sozialsystem, gute Autobahnen, gute Autos. Was denkt sie über die Ukraine? Nichts Politisches, bitte. Nichts, was man selbst noch nicht einzuordnen vermag. Sie nimmt sich gerne Zeit für uns, obwohl sie eigentlich über den Zetteln sitzt für die Abschlussprüfung. Wir versuchen es zu registrieren und sie nicht  zu sehr zu stören, wenn sie nicht gerade eine Lernpause macht und sich für uns und die Reise interessiert.

zugbekanntschaft

Ich habe nicht mal nach ihrem Namen gefragt

Als ich Bilder von unserer bisherigen Reise zeige, drehe ich unbemerkt einen kurzen Film, aus dem ich ein schlechtes Bild für diesen Artikel ziehen kann: Verliebt sein geht schnell. Was dann mein Problem ist . Und sie bleibt schnell, umarmt mich zum Abschied, als ich es nicht mehr erwarte: “Good  luck” sagt sie. “Bye” sage ich und wollte ihr doch so viel mehr sagen können. Manchmal ist man dümmer und verschüchterter, als man es sich jemals eingestanden hat.

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Bilder aus: Odessa http://www.hntrlnd.de/?p=657 http://www.hntrlnd.de/?p=657#comments Wed, 23 Apr 2014 04:09:29 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=657
Das Mahnmal der gefallenen Helden

Das Mahnmal der gefallenen Helden

Odessas Gondelbahn

Odessas Gondelbahn

Junge, komm bald wieder!

Junge, komm bald wieder!

die letzte Sowjetromantik, die zu finden war

die letzte Sowjetromantik, die zu finden war

gegenüber der Militärschule

gegenüber der Militärschule

am Strand der Stadt

am Strand der Stadt

Odessa, Stadt der Treppen

Odessa, Stadt der Treppen

klassische Straßenszene

klassische Straßenszene

klassische Straßenszene

klassische Straßenszene

eins von ca. 100 Denkmälern

eins von ca. 100 Denkmälern

Odessas große Treppe

Odessas große Treppe

Hotel Odessa, postsowjetische Investruine

Hotel Odessa, postsowjetische Investruine

Cafe "Kompot" aus den 80ern

Cafe “Kompot” aus den 80ern

am Hafen

am Hafen

Odessas große Treppe

Odessas große Treppe

nicht das einzige Kaffeeauto der Stadt

nicht das einzige Kaffeeauto der Stadt

hinterm Bahnhof

hinterm Bahnhof

Platanaten und LEDs

Platanaten und LEDs

am Strand der Stadt

am Strand der Stadt

typische Allee in Odessa

typische Allee in Odessa

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Wahlkampf in Odessa http://www.hntrlnd.de/?p=668 http://www.hntrlnd.de/?p=668#comments Tue, 22 Apr 2014 04:52:17 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=668 _IGP7499

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Am Protestcamp in Odessa http://www.hntrlnd.de/?p=663 http://www.hntrlnd.de/?p=663#comments Tue, 22 Apr 2014 04:42:23 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=663 Das Protestcamp und seine hundert Teilnehmer.

Das Protestcamp und seine hundert Teilnehmer.

Das Protestcamp ist so gut wie leer, Passanten spazieren ohne Interesse vorbei. Die Plakate, welche um die Zelte herum drapiert wurden, zeigen Alterserscheinungen. Die Foto-Text-Kompositionen, die an frühere Wandzeitungen erinnern, blättern an den Rändern auseinander. Wenn ich fragend am abgesteckten Claim stehe, werde ich von keinem der übrig gebliebenen zwanzig oder dreissig Protestler beachtet. Die Protagonisten dieses verschlafenen Dörfchens drehen sich eher weg. Keine Fernsehkamera interessiert sich für diesen verschlafenen Rest. Die Ohnmacht scheint den Protestlern auf die Stirn geschrieben. Vielleicht stimmen sie inzwischen auch mit dem mobilen Kaffeeverkäufer überein, der dazu nur sagt: “Vergebene Liebesmühe” (frei übersetzt). “Warum?” frage ich. “Es hat sich doch alles wieder stabilisiert, was wollen die noch hier?” “Kaufen sie wenigstens Kaffee?” frage ich. “Nein, keiner von denen.” antwortet er grinsend.

Viele Sprüche, wenig Anteilname.

Viele Sprüche, wenig Anteilname.

Gut genug zu verstehen...

Gut genug zu verstehen…

Wir sind für - Wir sind gegen

Wir sind für – Wir sind gegen

Die EU nimmt uns nicht, noch heiraten wir nicht

Die EU nimmt uns nicht, noch heiraten wir nicht

Furcht vor Krieg, oder Ängste schüren?

Furcht vor Krieg, oder Ängste schüren?

Die alten Oligarchen waren erfolgreicher...

Die alten Oligarchen waren erfolgreicher…

Odessa für ein Referendum (?)

Odessa für ein Referendum (?)

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Odessa, steh auf - Anton wurde verhaftet, aber seine Taten leben weiter!

Odessa, steh auf – Anton wurde verhaftet, aber seine Taten leben weiter!

Erinnerung an die russische Marine und Vergleich des Maidan-Protestes mit ukrainischer Nazi-Vergangenheit

Erinnerung an die russische Marine und Vergleich des Maidan-Protestes mit ukrainischer Nazi-Vergangenheit

Alle Fahnen der involvierten Parteien wehen über dem Camp.

Alle Fahnen der involvierten Parteien wehen über dem Camp.

Die Opfer des Maidan aus russischer Sicht

Die Opfer des Maidan aus russischer Sicht

Russland, Ukraine, Weissrussland. Zusammen sind wir die heilige Rus!

Russland, Ukraine, Weissrussland. Zusammen sind wir die heilige Rus!

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Tscherno vs. Dnepr http://www.hntrlnd.de/?p=369 http://www.hntrlnd.de/?p=369#comments Mon, 21 Apr 2014 07:46:28 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=369 mal wieder anstellen

mal wieder anstellen

Jens war noch nie(!) in seinem Leben bei einem Fußballspiel und ich freue mich sehr, dass ich dabei bin, als er ausgerechnet in der Ukrainie entjungfert wird, was das Ballspiel betrifft. Nach zwei Bier fängt er an, mitzuschreien. Ich habe mir zum ersten Mal einen Fußballschal gekauft; für vier Euro konnte ich nicht widerstehen.002Heute spielt der fünfte der ersten ukrainischen Liga gegen den zweiten – hier mehr Infos. Zwei recht wohlhabende Vereine aus zwei recht wohlhabenden Städten. Während Dnipro wohl das Borussia Dortmund der Ukraine ist und noch um die Meisterschaft gegen den übermächtigen Gegner aus Donezk kämpft, hat Tschernomorez in den letzten Jahrzehnten eine wechselvolle Geschichte zwischen Uefa-Pokal, Abstieg, Aufstieg und Pokalsieg hinter sich. Das Logo ist ein Anker – als Mannschaft der größten ukrainischen Hafenstadt schon fast absehbar.

005Während die Hausherren eher „durch den Kampf ins Spiel finden“, versucht Dnepr mit Kurzpassspiel zum Tor zu gelangen. Was auch gelingt – aber Abseits. Zwei Minuten später Latte. Dann Tscherno mit einem durchaus geschickt gekonterten Flügelangriff – Tor! Kurz darauf bekommt einer von Tscherno einen Schuh aber ordentlich ins Gesicht und bleibt liegen (zurecht), die eigene Mannschaft spielt den Ball ins Aus für eine Behandlungspause. Was Dnepro nicht davon abhält, einfach weiterzuspielen und in der Verwirrung das Gegentor zu machen. Großes Gerangel, die beiden Trainer schubsen sich gegenseitig und beschimpfen sich, der Schiri fragt den Assistenten – kein Tor! Das Stadion bebt. In der zweiten Halbzeit versucht Dnepro alles, aber starke 15 Minuten reichen nicht und zum Schluss donnert Tscherno den Ball einfach nur noch nach vorn. Acht gelbe Karten später geht Tscherno mit drei Punkten verdient nach Hause. Soviel zum Spiel.

007Das Stadion in Odessa wurde ab 2008 für 100 Millionen Euro komplett neu gebaut und war als Ersatzspielstätte für die EM 2012 vorgesehen. Bezahlt wurde alles angeblich vom Eigentümer des Vereins. Obwohl das Stadion direkt am Schwarzen Meer steht und Odessa auch sonst viel zu bieten hat, haben bis auf einen einzigen alle ausländischen Spieler ihre Verträge bei Tscherno mit Beginn der „Ereignisse“ im Land aufgelöst und sind einfach nach Hause gegangen. Dieser eine Verbliebene macht dann auch das einzige Tor – welch Wink des Schicksals.

Auch wenn beim Fußball überall auf der Welt elf gegen elf 90 Minuten den Ball treten, so ist das, was sich hier auf den Rängen abspielt, nicht ganz mit dem zu vergleichen, was sich in Deutschland als Fußballkultur darstellt.003In erster Linie ist erstaunlich, dass beide Fanblöcke vorm Spiel Einigkeit demonstrieren, indem sie gemeinsam und im Kanon „Slava Ukraine – Gerojem Slava!“ (Slava = Ruhm, Geroi = Held) anstimmen. Auch scheint der Fußball hier sehr mit einer politischen Aussage verbunden, das zeigen die zahlreichen ukrainischen Landesfahnen. Zudem wird vorm Spiel von allen Anwesenden die ukrainische Nationalhymne gesungen, aus voller Kehle, mit wehenden Fahnen und Hand auf der Brust. Verständlich bei einer Nation mit Minderwertigkeitskomplex. In Deutschland wäre das alles undenkbar – da müsste wohl erst unsere staatliche Einheit akut bedroht sein, damit keiner mehr von den „Scheiß-Bayern“ spricht und St.Pauli- und Hansa-Fangruppen nicht aufeinander einprügeln wollen. Diese Verbrüderung geht natürlich nur bis zum Anpfiff. Aber auch sonst ist keinerlei Aggressivität zwischen den Spielern und Fans zu spüren, so als ob sie einen Nichtangriffspakt außerhalb des Rasens geschlossen hätten, weil sie gegen einen übermächtigen Gegner spielen. Und das tun sie ja augenscheinlich auch.
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Notiz zum Schluss: Nach der Halbzeitpause ist das Stadion doppelt so voll wie vorher, da man nun kostenlos reinkommt. Auf dem Heinweg im Supermarkt treffen sich zwei Fans der Heimmannschaft und begrüßen sich augenzwinkernd mit “Slava Rossia!”. Bei aller Problematik der “Ereignisse” scheinen sich die Menschen noch ein Stück Witz erhalten zu haben. Humor ist, wenn man trotzdem lacht.

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Ostern am Schwarzen Meer http://www.hntrlnd.de/?p=353 http://www.hntrlnd.de/?p=353#comments Mon, 21 Apr 2014 06:35:36 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=353 odessatext_01

Babuschkas und Bisnes

Alexandr versicherte uns, er habe eine Ersatzwohnung, die noch besser sei, als die, welche wir gebucht haben; wir haben uns 10:00 Uhr bei der Adresse verabredet. Also warten wir vor dem Eingang zum Ersatzdomizil. Ein orthodoxer Jude spaziert an uns vorbei, seine beiden kleinen Töchter rechts und links an der Hand. Vor dem Laden “Make My Cake” (hier gibt es individuellen Kuchen, Coffee-to-go und Klimbim) steht das perfekt gestylte Hipster-Bike. Entsprechender Zopfträger nippt am Kaffee und touchscreent dabei sein Smartphone. Ein Asiate telefoniert im Vorbeihetzen in asiatischer Sprache. Wenig später drei Jugendliche, die sich auf arabisch verständigen. Innerhalb einer Minute begegnen sich verschiedenste Kultursphären und bilden Alltag. Zweie sitzen auf dem Bordstein, die Rucksäcke lehnen an einer Platane.

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Odessas Straßen

Als er uns entdeckt, ist Alexandr aufgelöst und erschüttert und redet auf uns ein: “Ja dumal wui parui. Wam nado dwuch komnatnui kwartir, prawilno?” Er würde eigentlich nicht zwei Männer in einer Einzimmerwohnung unterbringen. Er hätte uns falsch verstanden und uns für ein Pärchen gehalten. Sofort telefoniert er herum, bekommt aber keine Zusage für eine andere Wohnung. Wir verständigen uns darüber, dass er uns erstmal die Pärchenwohnung zeigt. Sie ist gut saniert und sauber, ein ausgezogenes Riesensofa bildet das Zweierbett, der Fernseher läuft bereits aus irgendeinem Grund. Wie bei allen ukrainischen Sendern sieht man in der einen Ecke des Bildschirms das jeweilige Logo, in der anderen Ecke weht die ukrainische Fahne, darunter wechseln die Slogans “Eine Ukraine!” und “Ein Land!”. Wir haben die Lautstärke des Boilers und des Hinterhoflebens noch nicht mitbekommen und sagen, dass wir die Wohnung nehmen.

Schwarzmeeridylle am Betonstrand

Schwarzmeeridylle am Betonstrand

Odessa ist Urlaub pur, das Wetter ist perfekt für den ersten Sonnenbrand. Das jüdische Viertel in welchem wir wohnen ist wie die gesamte Innenstadt in quadratische Karees aufgeteilt. Die Straßen sind riesige Alleen. Die reich verzierten, maroden Fassaden der Häuser scheinen auf eine noch zu erfindende Technologie zu warten, welche es ermöglicht, zu sanieren und gleichzeitig die Verzierung zu erhalten, anstatt sie mit Dämmmaterial zu überkleben und einheitlich zu verputzen. Da es weder Super-, noch Baumarktketten gibt, findet man zwischen den “Produktui”-Tante-Emma-Läden auch gleichkleine Läden, die Fenster und Türen verkaufen. Bewohnt bedeutet längst saniert, was man an den Alu-Plastik-Rahmen der Fenster erkennt. In vielen Ecken ragen Wohnwolkenkratzer aus dem altehrwürdigen Stadtbild hervor. Der Plattenbau ist mitsamt seinen Produktionsstätten längst privatisiert, Architekten haben das sozialistische Einheitsbild der Platte überarbeitet. Fertigwände werden neu gestylt und als Luxuswohnungen an die solvente Kundschaft wie geschnitten Brot verkauft. Odessa ist eine schöne, saubere Urlaubsstadt mit einem gut integrierten Mittelstand.

Kirche und Bisnes

Kirche und Bisnes

Es ist Ostersonntag, alle Ruinoks sind geschlossen, wenige Stände verkaufen Körbchen, die zum ostersonntäglichen christlichen Ritual gehören. Für Spätentschlossene gibt es die Körbchen auch an den Ständen vor den Kirchen zu kaufen. Die halbe Stadt prozessiert in Familiengruppen, mitsamt von bestickten Handtüchern bedeckten Körbchen zur Kirche des Vertrauens, wo sie dann die Dinge machen, die Atheisten wie uns für immer unerklärlich bleiben werden.
Die Demut, mit welcher die Besucher ihren Prozeduren in den Kirchen nachgehen, hat für mich schon fast etwas Unanständiges. Das liegt bestimmt nicht nur an dem kurzen Rock der bekopftuchten jungen Frau, die nach mehrmaligem Bekreuzigen zärtlich und selbstvergessen ihre Lippen kurz auf ein Heiligenbild drückt. Hinter einem Stand in einer Ecke der Kirche stehen Mönche und verkaufen Kunstdrucke von Ikonen an die in Schlange stehende Kundschaft.

Hinter dem Bahnhof

Hinter dem Bahnhof

Die Straßen sind so gut wie leer und nur der konfessionslose Rest schlendert die Alleen entlang. Auf dem Weg zum Bahnhof sind wir ein paar Straßen weiter gegangen. Hier, in der Nähe der Schienen, kümmert sich niemand um Ostern. Die Straßen sind verstaubt und arm. Jeder geht seinem Geschäft nach, so gut es geht. Straßenbahnen kurven über Gleise, denen man keinen Halt mehr zutraut. Jemand hämmert geduldig rostige Eisennägel aus den Bohlen, weicht nur kurz einer vorbeifahrenden Straßenbahn aus und von seiner fragwürdigen Arbeit ab.
In Odessa ist es vorstellbar, dass man sich in Städte verlieben kann. Die Ehrlichkeit eines Zusammenlebens von grundlegend Verschiedenem zieht mich an. Man darf mir Urlaubsromantik unterstellen, berechtigterweise. Denn das bin ich, ein Urlauber, der keine Ahnung vom hiesigen Alltag hat. Zwei uniformierte, nichtstaatliche Milizen eilen aus einem Hinterhof über die Straße und steigen in einen Lada. Bei dem Einen hängt lässig eine Kalaschnikow zwischen Hüfte und Arm. Ich mache kein Foto. Ich bin lieber feige.

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Lviv – Odessa http://www.hntrlnd.de/?p=334 http://www.hntrlnd.de/?p=334#comments Sat, 19 Apr 2014 16:50:54 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=334 lviv-odessa_1Mein neues Lieblingsgetränk: Zugtee mit zweimal Zucker für 3 Griwna. In der Nacht halb eins sitze ich auf dem Klappsitz im Gang, weil es im Abteil zu heiß ist und ich nicht schlafen kann. Zudem schnarcht Jens wegen der Wodkaverkostung in der Dämmerung und unsere Abteilbegleitung besteht aus einer depressiv dreinschauenden Mutter mit ihrem stillen Sohn, die beide keine Gesprächspartner abgeben. Draußen ziehen im Dunkel Felder, Industrieanlagen und verlassen wirkende Dörfer vorbei, bis Odessa sind es jetzt noch sieben Stunden. Mein Tee zieht seit drei Minuten, ich bin allein, alles schläft, nur die Deshurnaja ist noch wach und sortiert in ihrem Abteil leise murmelnd die Tickets, die sie beim Losfahren eingesammelt und gegen frische und vor Stärke raschelnde Bettwäsche getauscht hat.

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Bahnhof Lviv

Ein Ukrainer in meinem Alter mit kräftigem Kinn und umso kräftigeren Nackenmuskeln, die seinen Haltungsschaden zu kompensieren suchen, der erst recht sichtbar wird, als er in der typischen, osteuropäischen Zugkleidung vor sein Abteil tritt: Unterhemd, Jogginghose, Adiletten. In letzteren zeigen sich seine geschundenen und krummen Zehen; ich bin kein Orthopäde, aber der Mann arbeitet sicher hart und geht nicht zum Betriebsarzt.
Ein Abteil weiter das Gegenstück; der semi-östrogene Ukrainer mit fliehendem Kinn. Alles scheint weich an ihm, auch sein Blick, der mich oft schüchtern streift und den er ins dunkle Nichts vor dem Zugfenster wendet, sobald ich ihn erwidere. Hinter seiner randlosen Brille schauen schlaue Augen, die und seine Haltung, Hände und Körpermitte verraten eine eher sitzende Tätigkeit.

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Um sechs ist meine Nacht zu Ende. Noch zwei Stunden. Draußen Soldaten, die im Morgentau rauchend auf ihren Zug zur Kaserne warten. Hunde, die anderer Hunde Kadaver verspeisen. Sporttaschenträger, die in Vororten aussteigen. Aus dem Nachbarabteil kommt ein Herr, dessen Anzug und Krawatte die Nacht ohne eine Falte überstanden haben, im Gegenteil zu meinem Gesicht. Die Deshurnaja schreit etwas auf den Bahnsteig, während sie sich fluchend Reste des heißen Wassers für meinen dritten Tee über die Uniform kippt. Vom Bahnsteig schreit jemand zurück und die Fahrt geht weiter.
Auch hier gilt wieder: Wer fragt, ob was erlaubt ist, ist der Dumme. So geht’s Jens, als er zwischen zwei Wagons mal eine rauchen will. Als er eine Stunde später einfach so eine rauchen geht, stellt sich der betrunkene Schaffner zu ihm und verteidigt ihn gegen unsere Deshurnaja, die sowas nicht gern sieht, aber was solls, der Schaffner machts ja auch.

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