hntrlnd » Vorwärts http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Kasachisches Bisnes und zweitausendfünfhundert Kilometer http://www.hntrlnd.de/?p=1032 http://www.hntrlnd.de/?p=1032#comments Wed, 18 Jun 2014 16:20:27 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=1032 Zweie vor Plastik

Zweie vor Plastik

Der eigentliche Fahrkartenschalter ist noch weit entfernt. Anstatt des „Taxi, Taxi, Taxi“ Gesangs vor der Bahnhofshalle, entsteht nun aus „Ticket, Ticket, Ticket“ die Hintergrundmusik. „Sag schon, wo wollt ihr hin?“ unterbricht jemand unseren Gang zur Schalterangestellten. „Astrachan“ antworte ich, ohne mich zu ihm zu wenden. Die Südstrecke durch Kasachstan geht über zweieinhalbtausend Kilometer. „Bei mir kostet das Ticket 20000.“ Ich drehe mich zu dem auskunftsfreudigen Verkäufer. „Aha,“ sage ich „aber wie funktioniert das, dass du mir den Fahrpreis günstiger anbieten kannst?“

Kartenverkauf hinter der Grauzone

Kartenverkauf hinter der Grauzone

„Wir sind Kasachen“ antwortet er und führt uns zu einem Terminal, an dem man sich die freien Plätze in den Zügen anzeigen lassen kann. „Wir kaufen keine regulären Tickets, das ist uns zu teuer.“ Er zeigt auf den Bildschirm „Siehst du, wie viele freie Plätze es gibt? Niemand kauft hier Tickets. Die kosten 5000 mehr.“ „Also, wie funktioniert dann euer System?“ frage ich. „Ich gebe dem Zugbegleiter vor Abfahrt eine Liste mit den Namen der Passagiere, die bei mir eingekauft haben.“ Er wird redselig „Außerdem bekommt der Zugbegleiter von mir seinen Anteil am Verkaufspreis. Das ist völlig sicher, alle Kasachen machen das so.“ Neben uns kauft gerade eine zumindest kasachisch sprechende Familie ihre Tickets am Schalter. „Ja,“ sage ich „ aber wir sind keine Kasachen, sondern anstrengende Deutsche. Wir brauchen ein offizielles Ticket in der Hand, damit wir uns sicher fühlen. Ein Ticket könntest du uns aber nicht geben, wenn wir bei dir kaufen, richtig?“ Er sieht aus, als würde er sich ärgern über seine Ausführungen, die unsere Skepsis nicht verhindern konnten. „Nein, aber ihr steht ja dann auf der Liste. Das ist todsicher und billiger.“ Ich verneine sein Angebot: „Danke, aber wir bezahlen lieber mehr und haben dann ein Ticket in der Hand.“ Er winkt ab: „Ja, dann geht doch zum Schalter und lasst mich in Ruhe.“ Er ist so schnell verschwunden, wie er anfangs auf uns einredete.

Hightech und Bahnsteig

Hightech und Bahnsteig

Auch der Kauf am offiziellen Schalter ist suspekt ab dem Moment, als Dirk mit Karte bezahlen will. Die Schalterangestellte steckt die Karte hinter dem Fenster in ein mobiles Lesegerät und fragt Dirk nach der Geheimnummer. Die geben wir ihr natürlich nicht. Sie muss also aus dem Schalterraum herauskommen, damit Dirk die Nummer selbst eintragen kann. Auch der Preis ist seltsam, genau 20000 pro Person. Unsere wichtigste Vorbedingung ist nun aber erfüllt: wir haben zwei ausgedruckte und offiziell aussehende Tickets in der Hand. Einen Tag später stehen wir auf dem Bahnsteig, der Hightech-Plastikwagon erwartet uns mit offenen Türen. Ich kaufe Zigaretten an einem Bahnsteigkiosk. Am Tisch sitzt die Verkäuferin mit einem Gast, dieser leert ein kleines Fläschchen Brandy. „Verkaufst du Zigaretten?“ frage ich. Sie geht zum Tresen und holt unter dem Ladentisch die zwei Sorten heraus, die sie anbietet. Scheinbar hat sie keine Erlaubnis, Zigaretten zu verkaufen. Das bringt mich auf eine Idee: „Dann hätte ich noch gern ein Fläschchen von dem, was er da trinkt“ Bereitwillig zieht sie auch eine baugleiche Flasche unter dem Tresen hervor und nennt mir den Preis. Stolz gehe ich zum Wagon zurück.

Bahnhof und Bisnes

Bahnhof und Bisnes

„Darf man im Zug rauchen?“ frage ich die beiden Zugbegleiter am Eingang des Wagons. „Nein, darf man im ganzen Zug nicht“ antworten sie simultan. „Es gibt keinen Raucherplatz im Zug auf der langen Strecke?“ Der eine zwinkert mir zu: „Ich zeige dir später die Möglichkeit.“ Also frage ich nochmal nach, nachdem er den Zug und seine Eigenheiten erklärt hat. Ein Zug chinesischer Bauart mit kurzen Wagons. Man kann komplett durchgehen, ohne Zwischentüren öffnen zu müssen. Die Vier-Betten-Kupees sind etwas kleiner als in den Wagons alter Bauart. „Für 4000 zeige ich dir, wie und wo du ohne Probleme rauchen kannst.“ Ich übersetze Dirk, 18 Euro sind uns zu heftig. Das wäre unser letztes Bargeld und das hätten wir gerne für die Marschrutka nach Russland. Später sage ich zu unserem Zugbegleiter: „Für 2000 hätten wir gerne deine Informationen, wir brauchen noch etwas Geld bis Russland.“

Plastik und Bisnes

Plastik und Bisnes

Er und ein „Qualitätsoffizier“, der uns später Fragebögen zur Zugfahrt geben will, zeigen mir das Klo. Hier gibt es einen ständig rotierenden Abzug und keinen Feuermelder. Wenn man weitere fünf Minuten nach der Zigarette drin bleibt, ist der Rauch abgezogen, so die Erklärung. Hätte man auch selber drauf kommen können. Wir sehen die 2000 eher als Bezahlung für das Protektorat. Falls es doch wegen Rauchgeruchs zu Komplikationen kommen sollte, werden wir von den Zugbegleitern nicht belangt.
Erleuchtet Kamel Moskauer Viele Kamele Salztümpel Angekommen in Atirau Jens vor Lieblingshintergrund Rastplatz

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Dekadenz http://www.hntrlnd.de/?p=982 http://www.hntrlnd.de/?p=982#comments Wed, 11 Jun 2014 17:28:41 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=982 So viel Platz war noch nie

So viel Platz war noch nie

Den Busbahnhof in Bischkek kennen wir. Spätestens mit unseren großen Rucksäcken können wir nicht mehr den Taxi-Anbietern entfliehen, die einen innerhalb von Sekunden belagern. „Taxi, Taxi, Taxi“ ist der Kanon, in welchen auf allen Seiten eingestimmt wird. Ich möchte antworten: „Du suchst ein Taxi? Warum fragst Du mich? Hier stehen doch ganz offensichtlich genug herum.“ Wir versuchen vor dem Gesang zu fliehen um wenigstens noch eine Zigarette zu rauchen und vielleicht herauszubekommen, wo die Marschrutkas stehen, welche uns nach Almaty bringen. Auch in der hintersten Ecke des Busbahnhofs haben wir nur eine halbe Zigarettenlänge lang Ruhe.

Bischkek Busbahnhof

Bischkek Busbahnhof

Die folgenden Angebote sind geprägt von Hektik und Argumenten. Ich unterbreche die Drückerkolonne in ihrem Redefluss und sage: „Wir wollen einen Platz in einer Marschrutka nach Almaty. Wir würden auch etwas mehr bezahlen. Wichtig ist uns, das wir genügend Platz haben, also dass nicht mehr Leute im Bus sind, als Sitze. Außerdem möchten wir schnell über die Grenze nach Kasachstan kommen und nicht lange im Stau stehen.“
„Also viel Platz wollt ihr, Komfort, dann habe ich hier ein Taxi für Euch, 3000 SOM“ Also 40 Euro würde uns das Taxi kosten. „Aber an der Grenze müsst ihr warten“ sagt ein Anderer „Ich habe ein besseres Angebot. In den nächsten Stunden fahren keine Marschrutkas. …“ Die Busse fahren erst los, wenn sie voll besetzt sind und es dauert lange bis genug Passagiere nach Almaty gesammelt wurden. „… Ihr bekommt eine Marschrutka ganz für Euch alleine, die muss an der Grenze nicht anstehen, 5000 SOM“ Also 70 Euro für die 300 Kilometer.

Auf Wiedersehen Kirgistan

Auf Wiedersehen Kirgistan

„Das ist uns zu teuer.“ antworte ich. „Na los, 4500 SOM. Eine Marschrutka nur für Euch. Hat sogar Fernseher.“ Er schiebt uns Richtung Bus. So kurz wie möglich und so gut ich kann übersetze ich für Dirk, zu was für Konditionen wir den dekadentesten Grenzübertritt unserer Reise bekommen würden. Mit einigem Gedränge der Verkäufer und einsetzenden Bauchschmerzen entscheiden wir uns dafür. Der Bus ist mit den besten Sitzen ausgestattet, die wir jemals in einer Marschrutka gesehen haben. Wie immer in Kirgistan ist es kein GAZ, ein Lizenzbau des Ford Transit, sondern ein schätzungsweise 8 Jahre alter Mercedes Transporter, perfekt runderneuert und ausgebaut. Es gibt wirklich einen ausklappbaren großen Bildschirm, aber der interessiert uns nicht. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, dass Zweie diesen Zwanzigsitzer alleine besetzen, die Schlafmöglichkeit auf der hintersten Sitzbank ist trotzdem verlockend. Ich sage zu unserem Busanbieter, wir wollen zwar schnell los, aber falls doch noch weitere Fahrgäste auftauchen, sollen sie bitte mit in dem Bus fahren. „Nein.“ sagt er „Der ist nun Euer, ihr fahrt jetzt los.“

Alep und Alia

Alep und Alia

Kurz bevor wir den Busbahnhof verlassen haben, rennt er uns hinterher, winkt dabei zu mir und nicht zum Fahrer, er hätte da noch zwei Mitfahrer, ob wir sie mitnehmen würden. Ich sage „Ja, natürlich.“ und versuche mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Ein altes Ehepaar steigt dazu, er kassiert ihre 800 SOM. „Aber das dauert ja noch?“ fragt die Oma „der Bus ist ja noch leer“. „Nein,“ er lächelt die beiden an „die beiden Touristen haben sich einen ganzen Palast gemietet.“ „Achthundert kostet es die beiden?“ mische ich mich ins Gespräch ein „Also vierhundert für uns.“ grinse dabei aber zu offensiv über die eigene Kaltschnäuzigkeit. „Aber was denn, der Bus ist doch 7000 wert!“ antwortet er leicht angesäuert, gibt dem Fahrer dessen Anteil und sagt zu ihm „Hörst Du, wie er verhandelt? Du sammelst keine weiteren Mitfahrer ein, einfach durchfahren!“. Darauf wollte ich ja nicht hinaus, ich wollte den Palastpreis drücken, der eigentlich viel zu hoch ist. Einmal schlecht verhandelt bedeutet in unserem Falle teuer bezahlt. Dabei bleibts.

Dirk und das Lenindenkmal in Leninskoje

Dirk und das Lenindenkmal in Leninskoje

Kurz vor der Grenze bemerken wir das Ortseingangsschild „Leninskoje“. „Hast Du ein Foto gemacht?“ fragt Dirk. „Nicht rechtzeitig bemerkt“ erwidere ich, frage aber den Fahrer: „Wir sind doch jetzt im Ort Leninskoje. Gibt es da nicht vielleicht ein Lenindenkmal?“ „Keine Ahnung.“ antwortet er, ist aber sofort am telefonieren. Er fährt langsamer und findet die recht kleine, vergoldete Leninstatue. Sie steht in einem Park, dessen Pflanzenbestand einigermaßen gepflegt ist. Jedoch das Gebäude hinter dem Denkmal wurde garantiert seit 25 Jahren keiner Sanierungsmaßnahme ausgesetzt. Es darf langsam und kontinuierlich zerfallen. Der Bus hält und wir fotografieren uns gegenseitig, wie es solche seltsamen Touristen eben tun, die einen Leninfaible haben und sich einen ganzen Bus mieten. Das Rentnerehepaar guckt nur entgeistert, als ich mich zu ihnen drehe und „Entschuldigt bitte die Unterbrechung“ sage.

Ein Bus parkt in Leninskoje

Ein Bus parkt in Leninskoje

„Wissen Sie,“ sage ich später zu Alia, der Oma „ein mal im Leben sollte man eine ganze Marschrutka nur für sich alleine gemietet haben.“ „Das ist doch viel zu teuer!“ entgegnet Alep, der Opa leicht verärgert, lacht dann aber doch mit, als ich sage, so hätten wir das bestimmt nicht geplant gehabt.
Die Grenzkontrolle verläuft ausreichend schnell, wir spazieren mit Gepäck und Pässen und schneller Kontrolle durch die kirgisischen Grenzerhäuschen. Dann entdecke ich Alep, der sich suchend und verunsichert im Vorraum der kasachischen Grenze umsieht. „Meine Frau ist weg.“ sagt er „Gerade sind wir noch zusammen gegangen und jetzt finde ich sie nicht mehr.“ Ich sage ihm, dass ich sie auch nicht gesehen habe. „Aber sie hat doch auch meinen Pass.“ stellt er fest.

Zwischen den Grenzkontrollen kann man sich verlieren

Zwischen den Grenzkontrollen kann man sich verlieren

Ein kasachischer Polizist möchte ihn zur Kontrolle leiten. „Sein Pass ist bei seiner Frau.“ sage ich zum Polizisten. „Ja, bei der Kontrolle muss jeder seinen Pass bei sich haben.“ entgegnet er. Das Tonband in seinem Kopf wurde eingeschaltet, es gibt die aufgenommenen, unabänderlichen Worte wieder. „Sie müssen ihm doch helfen können?“ frage ich, während mich der Grenzer im Kontrollhäuschen darauf hinweist, dass ich bitte in die Kamera gucken soll. „Falls sie schon durch die Kontrolle ist und Sie sie sehen, geben Sie jemandem Bescheid“ ruft der Polizist als ich meinen Pass entgegennehme. Er kümmert sich um den Opa. Als wir nach einer Stunde alle vier wieder in der Marschrutka sitzen, sind die beiden Großeltern sehr nachdenklich. Ich frage Alia, was passiert sei. „Ach, ich bin eine Agentin.“ sagt sie, alle lachen, auch der Fahrer, auch Dirk, nachdem ich übersetzt habe. „Vielleicht wollten sie darauf warten, dass ich bei der Kontrolle gleich wegsterbe.“ ergänzt sie grinsend. „Naja, letztendlich hat es ja doch nicht so lange gedauert.“ erlaube ich mir zu sagen.

Viere können endlich die Grenze von Kasachstan aus sehen

Viere können endlich die Grenze von Kasachstan aus sehen

„Ach früher war das kein Problem hier an der Grenze, es gab keine.“ sagt sie leise und nachdenklich. Zu ihrem Mann sagt sie: „Warte mal ab, in einem Jahr spätestens geht das hier alles wieder leichter.“ Sie ist gebürtige Russin. In den Fünfzigern zog sie nach Kirgistan, ihr Bruder zog in einen Ort in Kasachstan. Bis heute besuchen sie sich oft gegenseitig. Sie ist Biologin, ihr Mann ist Sänger gewesen. Sie erinnert sich, erzählt vom Leben in der Sowjetunion. Wieder Episoden von alten Menschen, die mit der SU nicht nur den Sozialismus, sondern auch die eigene Jugend verbinden. Eine bessere Zeit. Diese Sichtweise ist mir oft auf der Reise begegnet. Dabei hat Alia Humor und kann über sich selbst lachen, sie ist stolz auf die Kinder, die in der Welt verstreut leben. Die Eurasische Union ist für sie ein Hoffnungsschimmer, bestimmt auch weil sie Russin ist, abgesehen davon merke ich ihr an, dass sie recht wütend über die unnötige Tortur an der Grenze ist, besonders der unnötige Stress für ihren schon recht senilen Mann ärgert sie.
Willkommen in Kasachstan Leuchtturmprojekt Landkreis Almaty Willkommen in Almaty

„Ich wünschte, es gäbe auf der ganzen Welt weniger Grenzen.“ sage ich und werde mir gleichzeitig der Realitätsfremde und Bedeutungslosigkeit des Gesagten bewusst. Ich schäme mich fast ein bisschen für den Satz. Als die Beiden in Almaty aussteigen, sagt Alia: „Entschuldigt bitte die Einschränkung Eures Komforts, die wir Euch bereitet haben.“ Dann lacht sie laut auf. Wir lachen mit. Alia und Alep reisen weiter zu ihrem Bruder. Sie hat die Kontrolle, die Pässe und die Wortführung. Er ergänzt manchmal, aber lässt sie meistens reden. Manchmal fragt Alep Alia, ob er eine Zigarette rauchen darf. Als wir vom Lenindenkmal zurück zum Bus kamen, nahm sie ihm die Zigarette nach ein paar Zügen weg. Ich sagte: “Wir können doch noch die Zigarette lang warten?“ „Nein“ antwortete Alia „wir fahren los.“ Alep schloss ohne zu Murren die Bustür hinter sich.

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Mit der Marschrutka von Bischkek nach Karakol http://www.hntrlnd.de/?p=973 http://www.hntrlnd.de/?p=973#comments Sun, 08 Jun 2014 06:02:36 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=973 Rauchpause im Nichts

Rauchpause im Nichts

Bevor die Reise beginnt, sprechen einige Fahrgäste ein Gebet. Ein alter Mann flüstertütet die abfahrenden Busse wie ein Muezzin, die Busfahrer werben für ihre Strecke mit dreifachem Rufen des Zielorts, Billets gibt es an der zentralen Kasse. Das Gepäckabteil des Sprinters, in dem wir gute fünf Stunden und knappe 400 km von Bischkek nach Karakol fahren werden, hat eine Packdichte höher als Blei.

Awtowoksal Bischkek

Awtowoksal Bischkek

Schnell noch ein paar Samsa (Blätterteigtaschen gefüllt mit Fleisch, Zwiebeln und Zeug) und zwei Flaschen Limo kaufen, ein Bordrestaurant ist nicht zu erwarten. Eine alte Frau hält Bananen durch die Fahrertür, eine andere Kirschen, Gurken, Tomaten. Der Bus fährt wie immer erst dann los, wenn er voll ist. Kommt man als einer der ersten Gäste, wartet man eben länger – feste Abfahrtszeiten sind auch hier Fehlanzeige. Was nicht mehr ins Gepäckabteil passt, steht eben im Gang. Ebenso wie ein Mann ohne Zähne und Fahrkarte, ein anderer hat sich gleich einen Hocker mitgebracht. Mein „voll“ ist ein anderes „voll“.

Je weiter wir nach Osten kommen, desto flacher, kleiner, bunter und verstreuter werden die Häuser, mehr und mehr erscheinen Schafherden, Kühe, Pferde vorm gebirgigen Horizont. Besagte Pferde sieht man nun öfter als Fortbewegungsmittel von Kindern, jungen Männern und Opas; Mädchen, Frauen und Omas gehen zu Fuß. An Kreuzungen mittig unbefahrene Dreiecke aus Schutt, Staub, Kiesel und klein gefahrenen Plastikabfällen. Gelegentlich stehen Menschen am Straßenrand, die von irgendjemandem mitgenommen werden wollen. Ein schmaler, fruchtbarer Streifen, einer Oase ähnlich, zwischen Hochgebirge und Yssyk-Köl auf 1600m Höhe wird geteilt von der Straße, aus der wir überladen dahin rasen und kaum Blicke für Dörfer aus Lehm, Holz und vergilbter Werbung finden, genauso wenig für die heruntergekommenen Sanatorien aus UdSSR-Zeiten, die irgendwie zwischen Betrieb, Abriss und Renovierung vor sich hin existieren. Es wird so lange auf der besseren Gegenspur gefahren, bis der Gegenverkehr hupt. In Kurven wird die Fahrbahn auf der vollen Breite ausgenutzt, der Fahrer telefoniert und raucht. Die Fahrbahn ist nicht die schlechteste, die Menschen hoffen und ertragen still. Züge findet man in diesem Land kaum, so hat sich der Busverkehr als das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel etabliert. Das weiß auch die Polizei, die alle 20km mit einer Radarfalle wartet.

Landschaft exisitert eher in der Ferne

Landschaft exisitert eher in der Ferne

Der kleine Junge mit den großen, dunklen Augen kann diese nicht von mir lassen. Die Hälfte der Fahrt muss er mal auf dem Schoß seines Vater, mal auf dem der Mutter sitzen und schielt oft von schräg vorne zu mir herüber. Als dann eine Stunde vor Ende der Fahrt zwei Fahrgäste aussteigen, darf er auf dem Sitz neben dem Fahrer sitzen und strahlt die ganze Zeit quer durch den Bus zu seinem Vater, der endlich schlafen kann. Es scheint die größte Reise seines Lebens zu sein.

Der Junge und der Vater

Der Junge und der Vater

P.S. Eine Marschutka ist ein semi-öffentliches Verkehsmittel, meist ein Transporter europäischer Bauart mit langem Radstand und Hochdach. Meist finden sich 13 bis 18 Sitzplätze, mal wurden sie nachgerüstet, mal wurde das Fahrzeug für diesen Zweck gebaut. Eine für deutsche ÖPNV-Verhältnisse undenkbar flexible Variante des außer- und innerstädtischen Kommunalverkehrs, der aber seit Jahrzehnten perfekt funktioniert, obwohl er nicht in dem Maße organisiert erscheint, wie es seine Umfänglichkeit erfordern würde.

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Bokonbayevo http://www.hntrlnd.de/?p=937 http://www.hntrlnd.de/?p=937#comments Thu, 05 Jun 2014 07:02:42 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=937 Bokonbajevo - Dorfleben zwischen Bergen und Strand

Bokonbajevo – Dorfleben zwischen Bergen und Strand

„Njet, Marschrutka ne nado. Stoit 120 SOM, muj jedjem Taxi, skoro jedjem, 150 SOM.“ Zweie und ein Malaysier stehen vor den Marschrutkas nach Bokonbayevo, während ein Taxifahrer Überzeugungsarbeit leistet. Die Marschrutka fährt erst später los, sein Taxi fährt aber gleich, fährt schneller und kostet kaum mehr pro Person, es spricht also nichts dagegen, wir willigen ein. Sein Taxi ist nicht der leere Nissan, den er per Fingerzeig bei seiner Argumentation gestikulierte. Wir gehen zur anderen Straßenseite, dort steht ein Mazda-SUV, zwei Rückbänke. Der Wagen scheint schon voll besetzt zu sein, aber der Gedanke, dass wir eine falschen Entscheidung getroffen haben könnten, dringt nicht schnell genug ins Bewusstsein vor, unsere Rucksäcke passen irgendwie in den viel zu kleinen Kofferraum hinter der letzten Rückbank und sind schnell verstaut.

Passt doch - Sieben Reisende auf fünf Sitzen

Passt doch – Sieben Reisende auf fünf Sitzen

Es wird Tetris gespielt. Ein Junge sitzt auf einem Brett, welches zwischen die beiden vorderen Sitze gelegt wird. Ein anderer Junge kommt auf den Schoß der Mutter, schon ist die hintere Rückbank frei für dreie, die sich aneinander quetschen, denn konzipiert wurde dieser Sitz nur für zwei Mitreisende. In dem Siebensitzer haben nun also zehn Leute samt Gepäck Platz gefunden. Die Fahrt geht völlig überladen los. Jeder einzelne Rückenwirbel gibt Auskunft über den miserablen Zustand der Straße und das nicht mehr vorhandene Spiel der Federung. Schlafen unmöglich, sitzen schmerzvoll. Zweihundert Kilometer lang beschäftigt uns nur ein Gedanke: Warum haben wir uns nicht rechtzeitig diesem Transport verweigert?

Von wegen Schlafen unmöglich

Von wegen Schlafen unmöglich

Bokonbajew empfängt uns mit Regen und langsam nachlassenden Rückenschmerzen. Unser schwuler chinesisch-malaysischer Freund fährt weiter Richtung Bischkek. Das Hostel ist nicht weit entfernt und empfängt uns auf den ersten Blick mit den freundlichen Worten: „So, ihr Zweie, erholt Euch erst mal“. Der erste Blick wird bei Eintritt bestätigt; Mutter, Vater, fünf Jahre alte Tochter, Garten, Hühner, Hofhund und vier Räume, aus denen wir frei wählen können.

Die Tochter des Hauses

Die Tochter des Hauses

Die Betten sind weich, die Küche ist groß, es gibt kein Internet, vielleicht das größte Qualitätsmerkmal im neuen Domizil. Ein britisches Pärchen sitzt bereits in der Küche und wird mit Tee und Marmeladenbrot bewirtet. Wir setzen uns dazu. Die beiden sind mit dem Fahrrad unterwegs. Ihre Reise ist für ein ganzes Jahr geplant. Keine Wohnung, den Job haben sie gekündigt, sie sind aus Malaysia bis hierher geradelt, das Ziel ist Wales. Sie will ein Reisebuch schreiben, er schreibt auch, weiß noch nicht genau, was es wird. Weil es stark regnete, hatten sie sich überlegt, hier im Hostel zu übernachten.

Ein Jahr lang Fahrräder und Zelt

Ein Jahr lang Fahrräder und Zelt

Meistens schlafen sie im Zelt, Hostels sind ein Luxus, den sie selten nutzen. Außerdem müssen sie schnell nach Bischkek kommen. Der Bruder heiratet nächste Woche, also fliegen sie von Bischkek nach Wales um bei der Hochzeit dabei zu sein, danach fliegen sie wieder zurück nach Bischkek. Wir lachen zusammen über diese Reiseunterbrechung, es gibt halt Dinge, die einen in den Alltag zurückzwingen, Hauptsache, man kommt schnell genug wieder weg. Bei Pelmeni und Kognak wird es ein langer Abend mit Gesprächen über Great Britain, Deutschland, Zentralasien und die Welt an sich.

Zwei Briten, Drahtesel, Gepäck

Zwei Briten, Drahtesel, Gepäck

Bokonbayevo ist ein gerade mal hundert Jahre alter Ort, der von der Tourismusindustrie noch nicht entdeckt wurde, jedoch dem Individualtourismus bereits jetzt alles bietet, was der Reisende benötigt. Die Bevölkerung der Kleinstadt kennt den Fremdenverkehr bereits als Einnahmequelle. Kinder grüßen und wollen die Hand schütteln, fragen frech nach Geld. Stark angetrunkene Opas grüßen auf ähnliche Weise. Der Rynok ist klein, es gibt fast nur Klamotten, typische türkische Imitatware. Daneben der Rynok mit dem Gartengemüse, sehr große, sehr scharfe Radieschen.

Es gibt sogar eine Kreuzung

Es gibt sogar eine Kreuzung

Der bisher vom Pauschaltourismus noch nicht entdeckte Vorteil dieser Stadt ist die Lage. Die Entfernung zwischen der über 4000 Meter hohen Bergkette und dem Yssykköl-See, samt perfektem Sandstrand, ist gering. Uns ist klar, wenn ein Investor mit ein paar Millionen einsteigt, bauen wir hier die perfekte Touristenanlage, geeignet für die Winter- und die Sommersaison und auch für die dazwischen.

Strand und Berge

Strand und Berge

Der Sandstrand kann mit Kiosken und Umkleiden aufgepeppelt werden, Eine Seilbahn müsste in den Hang gebaut werden, ein, zwei Pisten und jede Menge Tiefschneegebiet, vielleicht Heliskiing. Genug Land gibt es, um es mit Bettenburgen zu bebauen. Scheiss auf die Idylle des armen Städtchens, die verstecken wir hinter hohen Blechzäunen. Sotchi könnte einpacken.
Strom und Sand Gedenken an die Gefallenen des Afganistankrieges Der Motor muss abkühlen Halb Städtchen, halb Dorf, dahinter die Berge

Die Straßen der Stadt sind sauber, die Läden aufgeräumt, Ein Weltkriegsdenkmal, ein Panzer zur Erinnerung an den Afghanistan-Krieg, auf einem Sockel mit der Liste der dort gefallenen Einwohner. Lenin steht auch noch in zukunftweisender Pose, wir entdecken ihn zu spät, als wir bereits in der Marschrutka sitzen und abreisen. Ein paar Straßenecken weiter Manufakturen. In einer wird aus ökologisch korrekter Schafwolle kirgisische Folklore hergestellt, uns werden Manufaktum-Kataloge mit ihren extrem hohen Preisen für den deutschen Markt gezeigt, gerade werden Jurten vorproduziert, für den Export nach Deutschland.

Manufaktur mit internationalen Geschäftsbeziehungen

Manufaktur mit internationalen Geschäftsbeziehungen

In diesem Sommer wird hier ein Jurtendorf entstehen, in welchem die Touristen ganz urig kirgisisch Urlaub machen können. Es gibt deutsche Faltflyer im Blocksatzstil der Neunziger, Texte teilweise nicht lesbar vor der Hintergrundgrafik. Beschreibungen und Preislisten, sehr günstig. Der Flyer hinterlässt den Einruck von ersten stolpernden Gehversuchen, das ginge natürlich besser:

Kirgistan – ein von Pauschaltourismus noch nicht vergiftetes Land.

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Elektritschka-Epilog http://www.hntrlnd.de/?p=899 http://www.hntrlnd.de/?p=899#comments Tue, 27 May 2014 05:07:02 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=899 In der Elektritschka

In der Elektritschka

Egal wie man sitzt, liegt, lehnt, es dreht und wendet das Gesäß – nach einer Stunde schmerzt es auf hart-lackierten Holzbänken. Belustigte Blicke der Fahrgäste neben uns, durchs ständige Ändern der Sitzposition als Unkenntlicher entlarvt.

Rumpeln der Schienen, rhythmisch-abrupt, Schleifen der Bremsen, Klappern der Fenster und Türen, der Luftzug tut gut, Elektromotoren summen leise und alt, die Lok pfeift kurz vorm Bahnhof, kaum Zeit zum Aussteigen, den Kopf aus dem Fenster, Fliegen und Staub in den Augen. Geschwätz, Gelächter, Gejohle, ob man sich kennt oder nicht, Kinder wechseln die Schösse, Taschen die Hände. Und mittenmang das immer wiederkehrende Ersatzgebet der Lobpreisungen der Verkäuferinnen im Gang. Wasser, Ayran, Samsa, Kleinkram, Zeitungen, was darf es sein? Die ganze Familie ist eingespannt, Oma, Mutter, Tochter, die Stewardessen eines Vorortzuges in Usbekistan, in dem eine Fahrt keinen ganzen Euro kostet.

Die Kleider der Frauen aufwändig im Muster, praktisch im Schnitt, oft an der Hüfte gebunden, mal mit Tasche vorm Bauch, mal mit, mal ohne Arm, doch nie zu kurz an den Beinen. Wenn doch, dann mit Stoffhose ergänzt, auch ein Kopftuch über den schwarzen Haaren darf nicht fehlen, wohl aber aus Gründen der Temperatur, nicht der Religion.

Drei Schaffner sortieren das Geld für die Fahrkarten blind mit geübter Hand. Einer mit dreien, zwei mit zwei Sternen auf hellblauem Schulterstück, die Uniform des Dicken ist am stärksten verwaschen. Der mit drei Sternen nimmt das Geld und die Provision der Verkäuferinnen und steigt als erster der drei auf dem Heimweg aus. Die anderen bekommen Brot, Eier, Tomaten, Salz und essen im Zug. Man stößt an und prostet sich zu, das Wochenende naht, die letzte Fahrt endet in froher Erleichterung.

Kühe, von Jungen gezogen, geschoben, bewacht. Ist keine Kuh zur Hand, wird ein Reifen geschleppt, ein Fahrrad geschoben, im Schatten gesessen, Müll auf kleinen Haufen verbrannt, die Asche mit Stöcken geschürt und verteilt, das Feld bestellt, der Mutter den Einkauf getragen. Trinker schleppen sich durch hüfthohes Unkraut, schlafen am Bahndamm, tot oder lebendig. Zäune, Mauern, blinde Fenster, Zisternen, Gärten, Fabriken und Unrat wechseln sich ab mit versiegelter Erde, gemeinhin Beton genannt. Alles zieht vorbei im gemächlichen Takt der Elektritschka, wer nimmt diese Schönheit noch wahr? Die Stadt kündigt sich an durch Werbung und Hochhäuser.

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Sotchi – Jerewan http://www.hntrlnd.de/?p=737 http://www.hntrlnd.de/?p=737#comments Fri, 09 May 2014 06:02:17 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=737 Im armenischen Baumarkt habe ich nach langem Suchen endlich die Abteilung mit den Stichsägeblättern gefunden. Diese brauchte ich, um ein fehlerhaftes und dauerhaft knarrendes Brett in den Fußbodendielen unseres Schlafzimmers zu beschneiden, denn der Besitzer des Hostels hat nur eine Stichsäge, keine Sägeblätter. Ich stelle fest, dass ich kein Geld bei mir habe und nehme mir vor, die Sägeblätter zu stehlen, das kann ich gut, denn ich stehle ja oft. Auf dem Weg zur Kasse finde ich in einem der unteren Regale noch schöne, glänzende Glasmurmeln, ich stecke mir noch vier davon ein, eine ist leider zu groß für meine Hosentasche und so fällt sie mir auf dem Weg an der Kasse vorbei auf den Steinfußboden und zerbricht. Der Polizist am Eingang bemerkt natürlich mein schuldbewusstes Gesicht und nimmt mich mit auf die Wache. In diesem Moment klappert die Tür des Nachbarzimmers in unserem Hostel und ich wache auf. Wieder mal totalen Mist geträumt.

Flughafen Sotchi - wie alles hier ein wenig zu leer

Flughafen Sotchi – wie alles hier ein wenig zu leer

Um nach Armenien zu kommen, genauer gesagt nach Jerewan, müssen wir erst mal aus Russland, genauer gesagt aus Sotchi, raus. Unser Pässe werden viereinhalb mal kontrolliert, ein halbes mal freundlich, der Rest besteht aus kritischen Blicken und Fragen, was wir in Armenien wollen und warum wir in der Ukraine waren. Besonders Jens wird auseinandergenommen, weil er versucht, möglichst korrekt auf die Fragen in russischer Sprache zu antworten, ich stelle mich doof, frage einfach immer „In english please?“ und werde in Ruhe gelassen. Danke, Max Demian. Auf der Toilette, auf der ich nochmal schnell pinkeln gehe, riecht es, als habe ein ganzes Bataillon der russischen Armee seine letzte Rauchpause vor der Invasion der Ukraine gemacht. Ein alter, russischer Mann erbricht sich ins Waschbecken neben mir. Als ich ihn frage, ob er vielleicht Hilfe braucht, schaut er mich an, als ob ich ihn bestehlen will und erbricht sich wie selbstverständlich ein weiteres mal. Händewaschen fällt also diesmal aus. Das Flugzeug, ein Airbus A 319, ist nur zu einem Drittel gefüllt, die hübschen Stewardessen bedienen die drei Herrschaften in der Business- Class und die Oma, die kurz vorm Flug einen Kreislaufkollaps bekam und deren Mitflug nur Dank des Heulens ihrer Tochter doch noch zugelassen wurde. Wir hingegen bekommen unsere Getränke von Igor und Anton, das denke ich mir nicht aus! Das Brötchen, das sie uns als Snack zum Tomatensaft reichen, hat drei Scheiben Fleisch und ein Stück Gurke als Inhalt, Vegetarier bleiben eben hungrig. Zum Glück hat uns Igor zuvor noch die Sitze am Notausgang zugewiesen, da muss wohl immer jemand sitzen, wir haben doppelte Beinfreiheit, die drei Girls hinter uns instagrammen fleißig und kichern, wenn wir uns umdrehen, bei der Landung klatschen die Passagiere, der deutsche Pauschaltourismus hat sich also durchgesetzt. Nur noch nicht bei mir.

Blick übers Zentrum von Jerewan

Blick übers Zentrum von Jerewan

Jerewan erwartet uns heiß und freundlich. Eine winzige Kontrolle, schon stehen wir am Taxistand. Die letzte christliche Bastion vor der muslimisch geprägten Pufferzone zwischen Europa und Asien, gemeinhin als Kaukasus bekannt, will uns gleich mit dem dreifachen Fahrpreis abzocken, was auch klappt – zum letzten Mal, denn danach fahren wir nur noch mit Kleinbussen für ca. 20 Cent pro Fahrt. Sobald unsere Mitfahrer unsere Unkenntnis der armenischen Sprache bemerken, wird uns anstandslos geholfen, die richtige Station zu erwischen. Interessant ist auch, dass man nicht beim Einstieg bezahlt, sondern erst beim Ausstieg, was ein gehöriges Grundvertrauen voraussetzt, welches von allen, wirklich allen Fahrgästen wie selbstverständlich erfüllt wird; mir erscheint das als gesellschaftliche Verabredung.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

In der Metro. Eine Linie, immer hin und her. Alles glänzt.

Neben den tausend Bussen in zig Formen, Farben und Altern besitzt Jerewan eine einzige U-Bahn-Linie, ein Überbleibsel aus der Zeit, in der dies hier noch die Armenische SSR war, und so wie es aussieht, das letzte, denn ansonsten finde ich nichts russisch Anmutendes außer den üblichen Ladas, einer russischen Minderheit und der russischen Sprache als Hilfssprache, die sich aber mittlerweile ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Englisch liefert, auf dem dritten Platz und – zu meinem Erstaunen – nicht allzu abgeschlagen, liegt Deutsch.

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Mann mit Schwert und kleinem Penis

Bei den Menschen fällt das Aussehen auf; die meist schwarzhaarigen Männer tragen einen oftmals recht tiefen Haaransatz im Gesicht und auch die Monobraue ist weit verbreitet. Manchmal teilen sich drei Männer eine einzige Augenbraue. Die Frauen sind entweder geschminkt wie Kleopatra oder gar nicht, einige von ihnen versuchen, ein europäisches Schönheitsideal nachzuahmen, wobei ich mich frage: warum? Das Leben spielt sich draußen ab, meistens nach Einbruch der Dunkelheit, was den Temperaturen geschuldet sein mag.

Jerewan bei Nacht

Jerewan bei Nacht

Wieder viele Kinder überall, Fahrradverleih auf dem Opernplatz, Café an Café, voller Besucher, wann arbeiten die eigentlich alle? Freundliche Polizisten, Berge im Nebel, alles sehr europäisiert, die Häuser aus festem Stein gebaut, keine Chance und Notwendigkeit für blätternden Putz. Eine Stadt, eingerahmt von Heldendenkmälern mit Schwertern, kargen Hügellandschaften, einer übermächtigen Gedenkstätte zum Genozid durch die Türken, Fernsehturm, Lichter überall.

typisches Wohnviertel im Zentrum

typisches Wohnviertel im Zentrum

Die Lichter sind nicht selbstverständlich, so gab es in Jerewan zwischen 1991 und 1996 täglich nur eine bis zwei Stunden Strom, was einem großen Erdbeben, dem Zerfall der UdSSR und der damit verbundenen Energieknappheit zuzuschreiben ist.PanoramaSeit kurzem gibt es ein staatliches Rentensystem, welches nur wenige wollen, eine Stimme bei der Präsidentenwahl kann für ca. 12 Euro verkauft werden, es gibt keine militärische Kultur in diesem Land und der Genozid schwebt über allem. Aber dazu bald mehr, denn da gibt es noch viel zu lernen für uns.

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Kharkov – Sochi http://www.hntrlnd.de/?p=606 http://www.hntrlnd.de/?p=606#comments Fri, 02 May 2014 08:03:55 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=606 Zug und Nacht und Rostov

Zug und Nacht und Rostov

Von Kharkov nach Rostov am Don, platzkartnui Wagon. Die Tickets kosten für die ganze Strecke bis Sochi nicht um die fünfzehn, sondern siebzig Euro pro Person. Die Abteile sind eng, keine Türen zum Abschließen. Den Raum, auf dem im Coupe vier Fahrgäste liegen, teilen sich hier sechs Leute. Noch weniger Privatsphäre und diesmal keine schöne Ukrainerin in Sichtweite. Der Wagon auf der Zugstrecke Minsk – Sochi ist sauber, die Mitfahrenden sind verschlafen, die Liegen bereits runtergeklappt. Der Ein- und Ausstieg, in welchem man raucht, ist wieder mit Aschenbechern ausgestattet. Ein Schild weist darauf hin, dass auf der Durchfahrt durch die Ukraine nicht geraucht werden darf: Altbekannte Prozedur, die Durchgangstür zum nächsten Wagon öffnen und zwischen den Wagons auf die Schienen aschen.

Ukraine und Landschaft und Gleise

Ukraine und Landschaft und Gleise

Fünf Tage vor Abfahrt waren wir auf dem Kharkover Bahnhof, um die Tickets zu kaufen. Wir hatten nicht an Wuichodnuie gedacht, für welche die freien Tage um den ersten Mai herum gerne genutzt werden, außerdem hatten wir uns blenden lassen von Statistiken, welche besagten, dass der Ticketkauf Richtung Krim und Russland um dreißig Prozent zurückgegangen sei. Auf dem Weg zum Fahrkartenschalter wurde ich von jemanden in Zivil angehalten, er zeigte ein Dokument, welches ihn wahrscheinlich als Polizisten auswies, ein uniformierter Polizist stand neben ihm. Er fragte mich, was ich hier wolle, wo ich hin will und woher ich komme. Also zeigte ich meinen Pass und sagte was von Deutschland und Urlaub und Sochi, wie immer wurden aufmerksam und interessiert die Visa durchgeblättert, ich bekam den Pass ohne weitere Nachfrage zurück. Diese Begebenheit vermittelte mir einen weiteren Eindruck von der Nervosität der ukrainischen Behörden. Am Fahrkartenschalter wurde uns schnell mitgeteilt, dass es keine Tickets mehr gäbe, weder für den Zug Minsk – Sochi, noch für den Zug Moskau – Sochi. Wir waren erschüttert. “Na, da muss es doch eine Möglichkeit geben”, murmelte die Angestellte am Schalter für internationale Gäste in fließendem Englisch und tippte lange und konzentriert auf der Tastatur. “Das ist möglich” sagte sie dann, während sich bereits Schweißperlen auf unserer Stirn bildeten. “Ihr bekommt Platzkarten für den Zug Minsk – Sochi, fahrt bis Rostov, zwei Stunden später steigt ihr in den Zug Moskau – Sochi, wieder mit Platzkarten.” “Perfekt,” rief ich “machen wir so.” In meiner Euphorie fragte ich mal wieder, ob ich ein Foto von ihr machen dürfe. Sie freute sich: “Gerne, doch hier dürfen keine Fotos gemacht werden.” “Das sieht doch keiner.” sagte ich. “Doch die Kameras.” grinste sie, ihr Zeigefinger hob sich von der Tastatur ein wenig zur Seite hin.

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Platzkartnui und Fenster und Rausgucken

Jetzt sitzen wir also im Minsk-Sochi Zug und bekommen Waren feilgeboten, laut werden Vorzüge und günstige Preise vorgetragen, Schlafende sind egal. Folgende Liste beschreibt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, das Sortiment: Blumenvasen, mit Blumenmuster, oder ohne, vergoldet, oder nicht, Kinderbuntstiftsets, Walnüsse, Milch, andere Nüsse, einen Meter hohe Vasen (das Angebot entspricht wirklich dem eines gut aufgeräumten Vasenladens), Käse, karierte Taschen voll Zeug, Brot, Brennholz, Bier, Besteck und das beste Gebäck überhaupt, wenn man der Verkäuferin glauben mag.
Die ukrainische Landschaft fährt am Fenster vorbei, die Bäume blühen, mehr Birkenwäldchen, also fahren wir in die richtige Richtung. Nach vier Stunden Fahrt werde ich bereits das zweite Mal von Polizisten kontrolliert. Sie entdecken mich, als ich durch das Türfenster der Raucherecke Fotos von vorbeifahrender Natur mache. Wir fahren zwar durchs Donezk-Gebiet, aber von einem fahrenden Zug aus sind keine Besonderheiten zu entdecken. Eine Straßensperre aus alten Reifen bekomme ich nicht rechtzeitig in den Fokus.

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

Bahnsteig und Hightech-Zug und kurz vor Sochi

“Gehörst Du zu dem Wagon?” fragt mich der eine Polizist “Ja”. “Hast Du Drogen dabei?” fragt der zweite. “Nein, keine Drogen.” “Wo kommst Du her?” “Aus Deutschland.” “Alleine unterwegs?” “Mit einem Freund.” “Kommt ihr aus Weißrussland?” “Nein, aus der Ukraine.” “Aha, was habt ihr hier gemacht?” “Urlaub?” “Zeige Deine Dokumente!”. Also gehen wir zu den Liegen. “Hast Du ein Telefon dabei?” “Ja, aber das Akku ist alle.” “Zeige es trotzdem!” Er schaltet es ein und klickt wild durch die Apps, findet Fotos, dann geht das Handy wieder aus, Dirks Handy wird auch durchgeklickt. Ich habe die ganze Zeit den Fotoapparat in der Hand, dessen Aufnahmen wohl relevanter wären, aber dieser interessiert die beiden Polizisten scheinbar nicht mehr, sie haben wohl nicht genug Indizien für irgendwas gefunden, stattdessen werden willkürlich noch ein paar andere Passagiere kontrolliert.
Die Grenzkontrollen verlaufen dann auf beiden Seiten schnell. Interessant ist vielleicht, dass die ukrainischen Zöllner bereits fünfzig Kilometer vor der Grenze den Zug kontrollieren. Die Russen blättern direkt an der Grenze durch unsere Visa.
Rostov am Don – schicker Bahnübergang, viele Sitze in großen Wartesälen, vereinzelt schlafen Wartende.
Der nächste Zug kommt auf die Minute pünktlich. Wieder ein platzkartnui Wagon, diesmal neuester russischer Hightech. Ein kleines Schildchen informiert darüber, dass wir in einem Glückswagon mitfahren, ein Passagier hat auf Platz soundso gesessen und 500000 Rubel gewonnen, weshalb es sich durchaus lohnt, an der Bahnlotterie teilzunehmen. Wir finden nach längerer Suche unsere Liegen. Alle schlafen. Am Morgen zeigt sich das Manko der eng besetzten Nachtzüge. Die morgendliche Routine ermöglicht es nicht, sich nicht ständig gegenseitig auf die Füße zu treten. Dicht an dicht drängen sich Passagiere durch den engen Gang aneinander vorbei.
Es gelingt mir immer noch nicht, dem Gespräch zwischen Russen sinngemäß zu folgen, zu schnell, zu viel neu, die Sprache hat sich verändert. Eine schöne Russin zieht kurz vor Sochi eine Jeansjacke an. Steht ihr nicht. Tolle dunkelbraune Augen.

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Wagon und Deschurnaja und angekommen

Ich frage die Deschurnaja, ob sie uns bis Adler weiterfahren lässt, obwohl wir doch nur Tickets bis Sochi gekauft haben. Sie grinst kurz und macht dann wieder ein ernstes Gesicht “Das entscheide ich in Sochi, ich sage dann Bescheid” Auf weitere fragende Blicke meinerseits antwortet sie bis Sochi mit besonders ausdrucksstarker Ignoranz. Am Bahnhof schaue ich von der Wagontür aus kurz auf den Bahnsteig und zu ihr. Ihr Handwink vermittelt, dass die Fahrt eine Station weiter klar geht. Der Zug kommt auf die Minute pünktlich an. Gerne lässt sich unsere Deschurnaja vor ihrem Wagon fotografieren. Adler, Olympiapark, Palmen, Schwarzes Meer.

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Odessa – Kharkov http://www.hntrlnd.de/?p=477 http://www.hntrlnd.de/?p=477#comments Wed, 23 Apr 2014 21:48:16 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=477 Deschurnaja

Deschurnaja

“Junge, bleib stehen!” kreischt es aus einem kleinen Fenster am Eingang des Wartesaals. Ich registriere erst gar nicht, dass ich gemeint sein könnte. Ich drehe mich doch Richtung Fenster, als das Kreischen lauter wird.
Eine schätzungsweise Ende Vierzigjährige Deschurnaja mit hartem Blick, mit strahlend rotem Stift geschminkten, schmalen Lippen mustert mich: “Zeigen sie mir ihre Fahrkarte!” “Zeige ich Ihnen” sage ich “Die Fahrkarte ist da hinten im Wartesaal.” Ich zeige auf unsere Rucksäcke, sie verdreht die Augen. Also komme ich mit meiner Fahrkarte von unseren Sitzen zurück, sie nimmt diese kurz in die Hand und gibt sie mir dann sofort wieder: “Sie müssen die Karte vorzeigen, wenn sie den Wartesaal besuchen wollen!” sagt sie in spitzem Ton.  Seltsam, dass sie uns nicht bemerkte in den letzten zwei Stunden. Natürlich hatte ich in der  Zeit mehrmals den Raum verlassen, um eine Zigarette zu rauchen und um Dinge für die Zugfahrt zu kaufen. “Entschuldigen sie, das wusste ich nicht.” sage ich in dem Ton, den ich für den richtigen halte, gegenüber einer höhergestellten und Macht besitzenden Person. “Das sollten sie aber wissen!” antwortet sie. “Jetzt weiß ich es ja!” belle ich dann doch zurück und drehe mich mitsamt der Fahrkarte weg von ihr und hin zu unseren Rucksäcken.
Als wir uns Richtung Zug begeben, sage ich zu ihr, dass ich es wirklich nicht mitbekommen habe, dass man erst seine Fahrkarte zeigen müsse, um den Wartesaal zu betreten und frage sie, ob ich ein Foto von ihr machen könnte. “Natürlich können sie Fotos von unserem schönen Bahnhof machen.” antwortet sie lächelnd. “Nein” sage ich “Ich würde gern ein Foto von Ihnen machen und Ihrem Arbeitsplatz.” “Aber warum?” fragt sie “Was ist denn der Sinn?” “Nun, ich will es dokumentieren.” sage ich “Nur für Ihre Freunde?” fragt sie. “Ja genau,” antworte ich “es geht ja auch ganz schnell”.  Sie will noch kontern und sagt etwas über den kleinen Raum und dass es doch nicht angemessen sei, aber da mache ich schon das Foto. Ich zeige es ihr “Gar nicht mal so schlecht.” kommentiere ich, sie lächelt und winkt zum Abschied.

Bahnsteig Odessa

Bahnsteig Odessa

Die Zugfahrt nach Kharkov ist Anfangs von verständigenden Blicken zwischen Dirk und mir geprägt. Das Vierer-Abteil besetzen wir wieder auf den oberen beiden Liegen. Zwei Frauen begleiten uns auf den unteren Liegen, auf dem 700 Kilometer langen Weg.
Während die eine, schätzungsweise Siebzehnjährige, vor sich hintechnisiert mit I-Pad und Kopfhörern, sitzt dort auch die Mitte Zwanzigjährige Schönheit, deren Konterfei wir vielleicht schon auf Straßen begegneten, aber welche bisher nicht in unserem Zugabteil saß. Also male ich schlechte Zeichnungen mit Kugelschreiber, ich will sie auch fotografieren, sie ist sofort mit der Hand dazwischen, mein Fotoapparat ist einer der schnellsten, aber nicht schnell genug für die Reaktionszeit ihrer Hand, die sich vor das Objektiv legt.
Nach ihrem Mathematikstudium studiert sie nun Sport in Kharkov. Bringt das Geld? Nein. Wieviel verdient man im Fitnessstudio? 100 Euro monatlich, in der Verwaltung, die ist besser bezahlt, als eigentliches Fitnesstraining. Was denkt sie über Deutschland? Gutes Sozialsystem, gute Autobahnen, gute Autos. Was denkt sie über die Ukraine? Nichts Politisches, bitte. Nichts, was man selbst noch nicht einzuordnen vermag. Sie nimmt sich gerne Zeit für uns, obwohl sie eigentlich über den Zetteln sitzt für die Abschlussprüfung. Wir versuchen es zu registrieren und sie nicht  zu sehr zu stören, wenn sie nicht gerade eine Lernpause macht und sich für uns und die Reise interessiert.

zugbekanntschaft

Ich habe nicht mal nach ihrem Namen gefragt

Als ich Bilder von unserer bisherigen Reise zeige, drehe ich unbemerkt einen kurzen Film, aus dem ich ein schlechtes Bild für diesen Artikel ziehen kann: Verliebt sein geht schnell. Was dann mein Problem ist . Und sie bleibt schnell, umarmt mich zum Abschied, als ich es nicht mehr erwarte: “Good  luck” sagt sie. “Bye” sage ich und wollte ihr doch so viel mehr sagen können. Manchmal ist man dümmer und verschüchterter, als man es sich jemals eingestanden hat.

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Lviv – Odessa http://www.hntrlnd.de/?p=334 http://www.hntrlnd.de/?p=334#comments Sat, 19 Apr 2014 16:50:54 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=334 lviv-odessa_1Mein neues Lieblingsgetränk: Zugtee mit zweimal Zucker für 3 Griwna. In der Nacht halb eins sitze ich auf dem Klappsitz im Gang, weil es im Abteil zu heiß ist und ich nicht schlafen kann. Zudem schnarcht Jens wegen der Wodkaverkostung in der Dämmerung und unsere Abteilbegleitung besteht aus einer depressiv dreinschauenden Mutter mit ihrem stillen Sohn, die beide keine Gesprächspartner abgeben. Draußen ziehen im Dunkel Felder, Industrieanlagen und verlassen wirkende Dörfer vorbei, bis Odessa sind es jetzt noch sieben Stunden. Mein Tee zieht seit drei Minuten, ich bin allein, alles schläft, nur die Deshurnaja ist noch wach und sortiert in ihrem Abteil leise murmelnd die Tickets, die sie beim Losfahren eingesammelt und gegen frische und vor Stärke raschelnde Bettwäsche getauscht hat.

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Bahnhof Lviv

Ein Ukrainer in meinem Alter mit kräftigem Kinn und umso kräftigeren Nackenmuskeln, die seinen Haltungsschaden zu kompensieren suchen, der erst recht sichtbar wird, als er in der typischen, osteuropäischen Zugkleidung vor sein Abteil tritt: Unterhemd, Jogginghose, Adiletten. In letzteren zeigen sich seine geschundenen und krummen Zehen; ich bin kein Orthopäde, aber der Mann arbeitet sicher hart und geht nicht zum Betriebsarzt.
Ein Abteil weiter das Gegenstück; der semi-östrogene Ukrainer mit fliehendem Kinn. Alles scheint weich an ihm, auch sein Blick, der mich oft schüchtern streift und den er ins dunkle Nichts vor dem Zugfenster wendet, sobald ich ihn erwidere. Hinter seiner randlosen Brille schauen schlaue Augen, die und seine Haltung, Hände und Körpermitte verraten eine eher sitzende Tätigkeit.

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Um sechs ist meine Nacht zu Ende. Noch zwei Stunden. Draußen Soldaten, die im Morgentau rauchend auf ihren Zug zur Kaserne warten. Hunde, die anderer Hunde Kadaver verspeisen. Sporttaschenträger, die in Vororten aussteigen. Aus dem Nachbarabteil kommt ein Herr, dessen Anzug und Krawatte die Nacht ohne eine Falte überstanden haben, im Gegenteil zu meinem Gesicht. Die Deshurnaja schreit etwas auf den Bahnsteig, während sie sich fluchend Reste des heißen Wassers für meinen dritten Tee über die Uniform kippt. Vom Bahnsteig schreit jemand zurück und die Fahrt geht weiter.
Auch hier gilt wieder: Wer fragt, ob was erlaubt ist, ist der Dumme. So geht’s Jens, als er zwischen zwei Wagons mal eine rauchen will. Als er eine Stunde später einfach so eine rauchen geht, stellt sich der betrunkene Schaffner zu ihm und verteidigt ihn gegen unsere Deshurnaja, die sowas nicht gern sieht, aber was solls, der Schaffner machts ja auch.

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Der Versuch, zu verstehen http://www.hntrlnd.de/?p=296 http://www.hntrlnd.de/?p=296#comments Thu, 17 Apr 2014 19:13:44 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=296 Das dritte AugeAls ich versuche, die Oper der Stadt in meine 50mm Festbrennweite zu stopfen, was an ihrer schieren Größe und der Starrheit meines Blicks scheitert, werde ich angesprochen. Erst auf ukrainisch, ich verneine nett in russisch. Dann in russisch. Ich verneine wieder. Dann polnisch. Dann englisch. Jetzt verstehe ich. Ein „Guide“ bietet uns seine Dienste an, die ich nach kurzem Verhandeln auch annehme.
Was ich lerne:
Lviv hat ca. 800.000 Einwohner, die sich in einer der über 100 Kirchen und Kathedralen der Stadt die Segnung in diversen Glaubensrichtungen abholen können. Ukrainische Katholiken, armenische Christen, Kopten, Russisch-orthodoxe, Griechisch-Orthodoxe und noch viel mehr. Mein atheistisches Verständnis reicht in Glaubensfragen aber nicht sehr weit, muss ich zugeben. Eins verstehe ich: Die Stadt ist seit Jahrhunderten ein riesiger Schmelztiegel aus Religionen und Ethnien, die sich vermischten oder auch nicht, die sich vertrugen oder auch nicht, die sich gegenseitig umbrachten oder auch nicht. Besonders bemerkenswert sind die Armenier, die sich ab dem 14. Jahrhundert erfolgreich in Lviv etabliert hatten, mit eigener Rechtsprechung, einem eigenen Viertel, einer eigener Akademie. Heute sind davon nur noch gepflegte Reste vorhanden. Ob das mit dem Genozid durch die Türken zu tun hat oder mit dem Stalinismus, mag ich nicht beantworten, bevor ich nicht in Armenien war. Vorm 2. Weltkrieg gab es zudem eine große jüdische Gemeinschaft; von den ehemals 100.000 Juden sind heute alle tot oder weggebracht und nie wieder zurückgekehrt. Was bleibt, ist eine Ruine und ein Restaurant, was zwar nicht koscher kocht, aber immerhin eine Menora am Eingang stehen hat. Vielleicht ist der Kellner ja wenigstens beschnitten.

Reste der jüdischen Synagoge Jüdisches Graffito in Lviv Vor Ostern wird geputzt! Armenische Kirche Geister kennt doch jeder Hallo Echo. Weiß, die Farbe der Reinheit Blau, die Farbe der ukrainischen Katholiken

Im besten Hotel der Stadt soll mal der Schah von Persien für eine Woche mit seiner Familie untergebracht worden sein. Als es ums Bezahlen des eigens für ihn geräumten Hotels ging, schlug er vor, statt Geld eine Auszeichnung zu verleihen. Daraufhin brach wohl die gesamte Führungsetage des Hotels in Geheul aus. „Bloß keine Auszeichnung, wir wollen lieber Geld!“

Als ich zum Schluss noch ein wenig rumkumpeln will und mich auf russisch bedanke, bekomme ich mit einem scharfen Lächeln unseres Guides Igor die ukrainische, korrekte und gewünschte Variante genannt, die ich mir aber leider nicht merken konnte, lediglich einmal nachplappern. Wenn mal jemand einen guten Guide in Lviv braucht: hier gucken

Was ich selbst sehen konnte: In Lviv finden sich keine Windräder, keine Solarzellen, keine Fahrradfahrer (außer ein paar Jugendlichen, die ihr Fahrrad in Abwesenheit eines eigenen Autos mit Baumarkt-Ersatzteilen aufrüsten), keine Supermärkte, keine Vorfahrt für die rostige Straßenbahn.

Es finden sich auch keine adipösen Menschen außer ein paar beleibten Babushkas und Polizisten, und das, obwohl es kein „Bio“ gibt, keine westeuropäische, als modern behauptete Luxusaskese. Während wir nach Wohlbefinden suchen durch Weglassen, scheint sich Gesundheit hier in erster Linie über den Zugang zu Nahrhaftigkeit zu definieren. Es wird in Fett gebacken, Speck wird am Stück gegessen, Transfette werden hingenommen, Fleisch ist gut und billig.
Was sich ebenfalls nicht findet, sind Lenin-Statuen, die ich erwartet hätte. In der gesamten West-Ukraine soll es wohl keine mehr geben nach den „derzeitigen Ereignissen“, wie man das hier nennt.
Dafür finden sich an jeder Ecke Kinder, allein, ohne Eltern, welche um sie rumhelikoptern oder mit dem Smartphone Bilder zum Angeben bei anderen Smartphone-Eltern schießen. Die Kinder spielen einfach so, ohne Internetverbindung, auf Spielplätzen, deren rostige Metallstangen und abgeblätterte Bleifarbe jedem Sicherheitsbeauftragten in Deutschland den Job kosten würde, wenn das nicht sofort abgesperrt würde.

Auf dem Rynok dann alte Frauen, die Milch in gebrauchten Pepsi-Flaschen und selbstgepflückte Blumen feilbieten. 150 Gramm gesalzener Speck für neun, ein Stück Käse für 13, 500 Gramm besten Schinken für 60, ein großes Weißbrot für fünf Griwna. Macht 87 Griwna, also ca. sechs Euro. Das hätte nicht für den Schinken gereicht in Deutschland. Es hätte ihn auch gar nicht gegeben, da er so lecker schmeckt, das muss was drin sein, was bei uns nicht erlaubt ist.

Eins lerne ich dann aber doch noch: Wenn ich frage, ob etwas erlaubt ist, dann ist es verboten. Wenn ich nicht frage und einfach mache, dann ist es zwar immer noch nicht erlaubt, aber keiner stört sich dran.

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