Sotchi-Soufflee

_IGP8039Wieder mal weiß ich mir nicht anders zu helfen, als die zahlreichen Eindrücke, diesmal aus Sotchi am Schwarzen Meer, in kurze, möglicherweise polemisierende Sätze zu pressen. Aber Polemisierung ist in heutiger Zeit ja nichts ungewöhnliches, also:

Sotchi gab es schon vor der Olympiade, man glaubt es kaum, nur mit ein paar tausend Betten weniger. Das alte Sotchi ist größer als man denken mag, schöner, als man sich vorstellen kann und doch nicht immer gewünscht; wenn es einer Autobahn im Weg stand, wurde es hinter Mauern versteckt. _IGP8021

Das alte Sotchi besteht aus wundervollen Sanatorien, einer beeindruckenden Flora und Fauna, Palmen, Delfinen, Meer und Bergen, krummen Straßen, Wasserfällen, bellenden Hunden hinter Stahltüren, Frauen ohne Schuhe, wilden Gebirgsmenschen, Bettlerinnen vor orthodoxen Kirchen, die Lenin-Statue ist eingerahmt von Fünf-Sterne-Marriot, 20-stöckigem Hochhaus und Souvenierstand. _IGP7953

Das neue Sotchi versucht, sich kulturell wie optisch anzuschmiegen, erdrückt aber aufgrund seiner Größe, Menge und möchtegern-europäischer Gestalt, verbunden mit postsowjetischem Größenwahn. Fast alle Häuser sind nicht älter als ein Jahr, in Farben, die nicht wehtun, aus Baustoffen, die nichts wiegen, die drei Schweinchen würden wohl ein anderes Haus wählen. Einiges bis vieles scheint Fassade; an vielen Fenstern finden sich noch Aufkleber der Fensterfabrik oder Schilder, die eine Vermietung anpreisen, Dachrinnen führen ins Nirwana, Straßen ins staubige Nichts. Grünanlagen müssen erst noch wachsen, Coca-Cola-Lagerhallen noch abgebaut werden, die Formel 1 kommt ja auch noch, und dann erst die Fußball-WM, Urbanisierung und Bevölkerung findet noch nicht statt, zentrale Marketingkonzepte zur Vermeidung des Leerstands werden noch entwickelt, usbekische Gastarbeiter tauschen mit rauchenden Wachmännern argwöhnische Blicke. Dass man in Russland ist, teilen einem nur noch die Ladas und der Blick aufs alte Sotchi mit. Das neue Straßennetz, was hier gebaut wurde, ist beeindruckend oder verwirrend und wäre nach deutschen Umwelt- und Bauschutzrichtlinien etwa 2040 fertig geworden oder auch gar nicht. Hier wurde es einfach gebaut, weil es nötig war und die Kröten müssen nun einen Umweg nehmen, weil genug Kröten dafür bezahlt wurden.

Im McDonalds an der Strandpromenade muss man erst an einem Schalter bestellen und bezahlen, dann die Quittung gegen die Burger bei der Gewichtheberin am anderen Schalter tauschen. Typisch russisch, sagt man mir. Das System oder die Gewichtheberin? Etwas weiter weg schallt aus einer Bar am Strand Musik mit Texten über die Schönheit des Soldatenlebens, ein paar Frauen singen mit. Aber keine Fahnen weit und breit und auch kein Interesse, über Politik zu reden. Es läuft doch alles. Und der Leerstand im neuen Sotchi sei kein Problem, es sei doch alles bezahlt.

Die Kassiererin im Supermarkt in Krasnaja Poljana, dem Wintersportort 40km hinter Sotchi im Gebirge, wollte mich töten, weil ich kein Kleingeld hatte. Vielleicht hatte sie ja nur ihre Tage, ich komm nicht wieder, keine Frage. Um dorthin zu kommen, musste ich durch eine Sicherheitsschleuse schlimmer als am Flughafen. Kameras alle 100 Meter, Polizisten alle 500, Herr Putin hat sich angekündigt. Security first! Zu DDR-Zeiten konnten reiche Ossis hierher reisen, auch jetzt braucht man Geld, hier ist alles teurer, aber auch besser als woanders. Freu dich doch über das neu entstandene! Das ist der Fortschritt! Schau dir unser Wirtschaftswachstum an! Man muss nicht alles immer in Frage stellen.
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Unser Gastgeber André sagt, ich soll doch auch mal was von der Schönheit hier schreiben. Nichts leider als das, Piggeldy: Keine Briefkästen, keine Rechnungen, frischer Fisch und Schaschlik in großer Qualität und zu kleinen Preisen. Brot mit Nüssen und Trockenfrüchten, Alkohol in schon medizinischer Qualität, ich bin sauber betrunken. Der Kaffee, die Gewürze, die Gerüche, die Frauen! Den letzteren gibt man übrigens nicht die Hand, weil Handgeben ein archaisches Zeichen für das Nicht-Tragen einer Waffe ist und Frauen nun mal nicht im Sumpf mit der Kalashnikow im Anschlag liegen. Die Sümpfe hier sind nämlich trockengelegt, die größte Hängebrücke der Welt (für Fußgänger) ist gerade fertiggestellt, leider findet man nicht hin, weil’s noch keine Schilder gibt.

2 Gedanken zu „Sotchi-Soufflee

  1. André meint mit seiner “no remorse”-Tätowierung sicherlich die fehlende Reue gegenüber dieser Fehlentscheidung auf seinem Körper und nicht die britische Naziband. Fragt ihn mal !

  2. Sean Gonorrhoe, es ist die fehlende Reue gegenueber allem, was ich in meinem leben durchgemacht habe… auch gegenueber dem, dass ich vor fast 10 jahren mein heimatland deutschland verlassen habe…

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