hntrlnd » Lviv http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Lviv – Odessa http://www.hntrlnd.de/?p=334 http://www.hntrlnd.de/?p=334#comments Sat, 19 Apr 2014 16:50:54 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=334 lviv-odessa_1Mein neues Lieblingsgetränk: Zugtee mit zweimal Zucker für 3 Griwna. In der Nacht halb eins sitze ich auf dem Klappsitz im Gang, weil es im Abteil zu heiß ist und ich nicht schlafen kann. Zudem schnarcht Jens wegen der Wodkaverkostung in der Dämmerung und unsere Abteilbegleitung besteht aus einer depressiv dreinschauenden Mutter mit ihrem stillen Sohn, die beide keine Gesprächspartner abgeben. Draußen ziehen im Dunkel Felder, Industrieanlagen und verlassen wirkende Dörfer vorbei, bis Odessa sind es jetzt noch sieben Stunden. Mein Tee zieht seit drei Minuten, ich bin allein, alles schläft, nur die Deshurnaja ist noch wach und sortiert in ihrem Abteil leise murmelnd die Tickets, die sie beim Losfahren eingesammelt und gegen frische und vor Stärke raschelnde Bettwäsche getauscht hat.

lviv-odessa_2

Bahnhof Lviv

Ein Ukrainer in meinem Alter mit kräftigem Kinn und umso kräftigeren Nackenmuskeln, die seinen Haltungsschaden zu kompensieren suchen, der erst recht sichtbar wird, als er in der typischen, osteuropäischen Zugkleidung vor sein Abteil tritt: Unterhemd, Jogginghose, Adiletten. In letzteren zeigen sich seine geschundenen und krummen Zehen; ich bin kein Orthopäde, aber der Mann arbeitet sicher hart und geht nicht zum Betriebsarzt.
Ein Abteil weiter das Gegenstück; der semi-östrogene Ukrainer mit fliehendem Kinn. Alles scheint weich an ihm, auch sein Blick, der mich oft schüchtern streift und den er ins dunkle Nichts vor dem Zugfenster wendet, sobald ich ihn erwidere. Hinter seiner randlosen Brille schauen schlaue Augen, die und seine Haltung, Hände und Körpermitte verraten eine eher sitzende Tätigkeit.

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Abendessen im Zug kann sooo romantisch sein

Um sechs ist meine Nacht zu Ende. Noch zwei Stunden. Draußen Soldaten, die im Morgentau rauchend auf ihren Zug zur Kaserne warten. Hunde, die anderer Hunde Kadaver verspeisen. Sporttaschenträger, die in Vororten aussteigen. Aus dem Nachbarabteil kommt ein Herr, dessen Anzug und Krawatte die Nacht ohne eine Falte überstanden haben, im Gegenteil zu meinem Gesicht. Die Deshurnaja schreit etwas auf den Bahnsteig, während sie sich fluchend Reste des heißen Wassers für meinen dritten Tee über die Uniform kippt. Vom Bahnsteig schreit jemand zurück und die Fahrt geht weiter.
Auch hier gilt wieder: Wer fragt, ob was erlaubt ist, ist der Dumme. So geht’s Jens, als er zwischen zwei Wagons mal eine rauchen will. Als er eine Stunde später einfach so eine rauchen geht, stellt sich der betrunkene Schaffner zu ihm und verteidigt ihn gegen unsere Deshurnaja, die sowas nicht gern sieht, aber was solls, der Schaffner machts ja auch.

]]>
http://www.hntrlnd.de/?feed=rss2&p=334 3
Der Versuch, zu verstehen http://www.hntrlnd.de/?p=296 http://www.hntrlnd.de/?p=296#comments Thu, 17 Apr 2014 19:13:44 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=296 Das dritte AugeAls ich versuche, die Oper der Stadt in meine 50mm Festbrennweite zu stopfen, was an ihrer schieren Größe und der Starrheit meines Blicks scheitert, werde ich angesprochen. Erst auf ukrainisch, ich verneine nett in russisch. Dann in russisch. Ich verneine wieder. Dann polnisch. Dann englisch. Jetzt verstehe ich. Ein „Guide“ bietet uns seine Dienste an, die ich nach kurzem Verhandeln auch annehme.
Was ich lerne:
Lviv hat ca. 800.000 Einwohner, die sich in einer der über 100 Kirchen und Kathedralen der Stadt die Segnung in diversen Glaubensrichtungen abholen können. Ukrainische Katholiken, armenische Christen, Kopten, Russisch-orthodoxe, Griechisch-Orthodoxe und noch viel mehr. Mein atheistisches Verständnis reicht in Glaubensfragen aber nicht sehr weit, muss ich zugeben. Eins verstehe ich: Die Stadt ist seit Jahrhunderten ein riesiger Schmelztiegel aus Religionen und Ethnien, die sich vermischten oder auch nicht, die sich vertrugen oder auch nicht, die sich gegenseitig umbrachten oder auch nicht. Besonders bemerkenswert sind die Armenier, die sich ab dem 14. Jahrhundert erfolgreich in Lviv etabliert hatten, mit eigener Rechtsprechung, einem eigenen Viertel, einer eigener Akademie. Heute sind davon nur noch gepflegte Reste vorhanden. Ob das mit dem Genozid durch die Türken zu tun hat oder mit dem Stalinismus, mag ich nicht beantworten, bevor ich nicht in Armenien war. Vorm 2. Weltkrieg gab es zudem eine große jüdische Gemeinschaft; von den ehemals 100.000 Juden sind heute alle tot oder weggebracht und nie wieder zurückgekehrt. Was bleibt, ist eine Ruine und ein Restaurant, was zwar nicht koscher kocht, aber immerhin eine Menora am Eingang stehen hat. Vielleicht ist der Kellner ja wenigstens beschnitten.

Reste der jüdischen Synagoge Jüdisches Graffito in Lviv Vor Ostern wird geputzt! Armenische Kirche Geister kennt doch jeder Hallo Echo. Weiß, die Farbe der Reinheit Blau, die Farbe der ukrainischen Katholiken

Im besten Hotel der Stadt soll mal der Schah von Persien für eine Woche mit seiner Familie untergebracht worden sein. Als es ums Bezahlen des eigens für ihn geräumten Hotels ging, schlug er vor, statt Geld eine Auszeichnung zu verleihen. Daraufhin brach wohl die gesamte Führungsetage des Hotels in Geheul aus. „Bloß keine Auszeichnung, wir wollen lieber Geld!“

Als ich zum Schluss noch ein wenig rumkumpeln will und mich auf russisch bedanke, bekomme ich mit einem scharfen Lächeln unseres Guides Igor die ukrainische, korrekte und gewünschte Variante genannt, die ich mir aber leider nicht merken konnte, lediglich einmal nachplappern. Wenn mal jemand einen guten Guide in Lviv braucht: hier gucken

Was ich selbst sehen konnte: In Lviv finden sich keine Windräder, keine Solarzellen, keine Fahrradfahrer (außer ein paar Jugendlichen, die ihr Fahrrad in Abwesenheit eines eigenen Autos mit Baumarkt-Ersatzteilen aufrüsten), keine Supermärkte, keine Vorfahrt für die rostige Straßenbahn.

Es finden sich auch keine adipösen Menschen außer ein paar beleibten Babushkas und Polizisten, und das, obwohl es kein „Bio“ gibt, keine westeuropäische, als modern behauptete Luxusaskese. Während wir nach Wohlbefinden suchen durch Weglassen, scheint sich Gesundheit hier in erster Linie über den Zugang zu Nahrhaftigkeit zu definieren. Es wird in Fett gebacken, Speck wird am Stück gegessen, Transfette werden hingenommen, Fleisch ist gut und billig.
Was sich ebenfalls nicht findet, sind Lenin-Statuen, die ich erwartet hätte. In der gesamten West-Ukraine soll es wohl keine mehr geben nach den „derzeitigen Ereignissen“, wie man das hier nennt.
Dafür finden sich an jeder Ecke Kinder, allein, ohne Eltern, welche um sie rumhelikoptern oder mit dem Smartphone Bilder zum Angeben bei anderen Smartphone-Eltern schießen. Die Kinder spielen einfach so, ohne Internetverbindung, auf Spielplätzen, deren rostige Metallstangen und abgeblätterte Bleifarbe jedem Sicherheitsbeauftragten in Deutschland den Job kosten würde, wenn das nicht sofort abgesperrt würde.

Auf dem Rynok dann alte Frauen, die Milch in gebrauchten Pepsi-Flaschen und selbstgepflückte Blumen feilbieten. 150 Gramm gesalzener Speck für neun, ein Stück Käse für 13, 500 Gramm besten Schinken für 60, ein großes Weißbrot für fünf Griwna. Macht 87 Griwna, also ca. sechs Euro. Das hätte nicht für den Schinken gereicht in Deutschland. Es hätte ihn auch gar nicht gegeben, da er so lecker schmeckt, das muss was drin sein, was bei uns nicht erlaubt ist.

Eins lerne ich dann aber doch noch: Wenn ich frage, ob etwas erlaubt ist, dann ist es verboten. Wenn ich nicht frage und einfach mache, dann ist es zwar immer noch nicht erlaubt, aber keiner stört sich dran.

]]>
http://www.hntrlnd.de/?feed=rss2&p=296 0
Gde nachoditsa Wogsal? http://www.hntrlnd.de/?p=284 http://www.hntrlnd.de/?p=284#comments Thu, 17 Apr 2014 18:32:54 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=284 header
Halbzehn, auf zum Bahnhof, Zugtickets kaufen. Die grobe Richtung kennen wir, gestern waren wir bereits da, ich stellte mich am ersten Schalter an und erfuhr dort, welcher Schalter der richtige gewesen wäre, also Anstellen bei Schalter Nummer Neun. Beim Anstehen kommt es auf die richtige Erziehung an, einmal noch kurz die Freiheit einatmen und dann stehen, in der Schlange, Geduld üben, langsam ein- und ausatmen. Dirk fing schnell an herumzutänzeln: “Ich geh rüber zur Information, da ist keine Schlange. Ich frag mal, ob wir das auch online machen können.” Nach kurzer Zeit kam er zurück mit einem Zettel: “Hier, hör auf hier rumzustehen, die Angestellte war sehr freundlich und hat mir alles aufgeschrieben.” Also ab ins Domizil, online buchen. Es regnete heftig, wir nahmen ein Taxi. Der Taxifahrer gab 50 Grivna als Beförderungspreis an, wir fuhren los, ich redete mit Dirk Belangloses.
“Crash, zwei Autos.” sagte der Fahrer.
“Du redest deutsch?” fragte ich. “Hmm”, antwortete er “keine Praxis”
“Und woher?” “Vater arbeitete früher im Reich.” dabei umkurvte unser Fahrer milimetergenau Busse. “1941, fünf Jahre hat Vater gearbeitet im Reich.” Er grinste, wenn er ‘Reich’ sagte.
“Musste er arbeiten?” fragte ich. Er guckte fragend zurück.
“On dolschen rabotatch, ili on rabotal?” “Rabotal!”
Bei der Netzbuchung stellte Dirk fest, das man nur mit Kreditkarte zahlen kann. Wir haben keine und waren sauer. Auch Vorbuchen war nicht möglich. “Erste Maßnahme nach dem Aufstehen, wieder zurück zum Bahnhof.” stellten wir fest. “Ich stelle mich an und Du machst irgendwas anderes.” sagte ich zu Dirk.
Die grobe Richtung kennen wir also, ich schreite voran. Dirk hat Hunger, ich auch. “Ich würde gerne erst die Tickets erledigt haben” sage ich und schlage voranschreitend die Straßen vor, die wir nehmen sollten. Die grobe Richtung kennen wir ja, allerdings habe ich mich schnellstens komplett verlaufen.
_IGP7378
An der Polnischen Botschaft stehen schätzungsweise 200 Menschen. Ein etwas entfernt stehender Bauwagen bietet die Erstellung von Passbildern an. Vereinzelt werden wir auf Ukrainisch nach Etwas gefragt, was sich mir nicht erschließt, ich verstehe die ganze Ansammlung nicht und ich will zum Bahnhof. Viel zu spät bemerken wir, dass der inzwischen eingeschaltete Handyroutenplaner uns wohl eher zum Güterbahnhof lenkt. Das Industriegebiet, das vor uns liegt, ist Hinweis genug für Dirk, eine solche Vermutung zu äussern. Ein längst ungebrauchter Wasserturm steht zwischen hohen, wilden Bäumen.
DSC00422
Der Taxifahrer an der nächsten Bushaltestelle bringt uns gerne zu unserem eigentlichen Ziel. Im Radio mit russischer Moderation werden die Präsidentschaftskandidaten vorgestellt, der Fahrer bekreuzigt sich.
“Kto tui dumaesch, budet Präsident?” frage ich ihn. “Poroschenko” ist seine Antwort. “I komu tui chotschesch?” “Nu, Poroschenko.”
Ich befrage ihn im gebrochenen Russisch ein wenig weiter und er antwortet: Als er klein war, ist er mit seinen Eltern oft auf die Krim gefahren. Er würde gerne auch mit seinen Kindern da hin, aber das geht ja nun nicht mehr. Putin hat die Situation verursacht. Natürlich gibt es einen Apparat, aber Putin bleibt am Ende der Verantwortliche. Zur Nato kann er nichts sagen. Ja, mit der Zeit könnte das Miliär die Macht in Russland übernehmen, wenn es so weitergeht. Nein, einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird es nicht geben.
DSC00423
Vor Schalter Nummer Neun stehen zwei Kunden. Ich bin beruhigt, Dirk bestimmt auch. Es geht schnell, ich kaufe zwei Tickets für die Fahrt nach Odessa. Die Englischkenntnisse der Schalterfrau reichen aus. Irgendwie ist mir gerade nicht nach Kommunikation auf Russisch.

]]>
http://www.hntrlnd.de/?feed=rss2&p=284 0
Berlin – Lviv http://www.hntrlnd.de/?p=266 http://www.hntrlnd.de/?p=266#comments Wed, 16 Apr 2014 18:48:21 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=266 Busschild
ZOB Berlin, es hagelt. “Tscheres tritsatch minut” sagt der Busfahrer am Telefon.
Zweie sitzen auf der Busbahnhofsbank, die letzte Sportzigarette ist weggeraucht, eine Mülltonne wird vorbeigeschoben.
Der Bus scheint überbucht zu sein. Russisch, Ukrainisch, Deutsch. Reihenfolge bedingt durch die Menge der Wortfetzen in jeweiliger Sprache. Die Sitzlehnen sind eindeutig zu kurz. Der Kopf ragt über und der Hals schmerzt nach wenigen Minuten in zurückgelehnter Haltung. Das Wetter ist ausreichend gut, perfektes Busreisewetter. Die Autobahn ist grau und frisch saniert. Die ersten Kilometer in Polen dann doch wie aus alten Zeiten, holpernd überholt der Bus einige LKW, bergab rennen die Boliden um die Wette, kein Spiel zwischen den Fahrzeugen.
Auf dem Bildschirm läuft in chronologische Folge eine wohl recht erfolgreiche russische Serie. Lächerlicher Protagonist, ernste und gefühlvolle Frauen, lustig und klischee-ersoffen. Alles wird gut am Ende. Halbelf werden mitten in Polen Pässe kontrolliert – ungeplante Raucherpause. Der Camouflagepolizist sagt beim Sichten unserer Pässe: “Usbekistan?” und zieht die Augenbraue hoch, seine Unterlippe schmollt hervor.

Passkontrolle und Raucherpause

Das nächste Mal werden die Pässe an der europäischen Außengrenze eingesammelt. Auf polnischer Seite gibt der Grenzer die Pässe zurück und benennt dabei den abgelesenen Vornamen des jeweiligen Empfängers, freundlich. Auf ukrainischer Seite das gleiche Spiel mit etwas längerer Wartezeit.
“Dass es immer diese Kinder gibt, die nichts richtig machen” grummelt der Busfahrer, wenn ich ihn richtig verstehe, und macht dem Grenzer das Licht im Gang an.
“War unter uns ein ‘Manka’?” fragt dieser und guckt nach dem Passagier: “Kommen Sie mit raus”.
Das Licht im Gang ist wieder aus, die Pässe werden weiter kontrolliert, Jeder flüstert mit Jedem. Manka ist zu Tränen gerührt, als er sein Handgepäck aus dem Bus holt. Er wird nicht weiter mitfahren.
Kurz vor Lviv gibt es keine Sicht mehr, eine einzige große Nebelwolke. Der Bus überholt beim zweiten Versuch erfolgreich einen sehr langsamen Milchwagen. Diesmal gab es keinen Gegenverkehr, der mit wenigen Metern Abstand vor dem Bus auftaucht. Der Nebel lichtet sich kurz und zeigt den dahinter liegenden blauen Himmel. Bei besonders langsamen Lastern kehrt der Nebel zurück. Und langsame Autos müssen überholt werden.
Lviv, Schlafstädte, Busbahnhof.
fahrn, fahrn DSC00353 DSC00358 DSC00394

]]>
http://www.hntrlnd.de/?feed=rss2&p=266 0