Bokonbayevo

Bokonbajevo - Dorfleben zwischen Bergen und Strand

Bokonbajevo – Dorfleben zwischen Bergen und Strand

„Njet, Marschrutka ne nado. Stoit 120 SOM, muj jedjem Taxi, skoro jedjem, 150 SOM.“ Zweie und ein Malaysier stehen vor den Marschrutkas nach Bokonbayevo, während ein Taxifahrer Überzeugungsarbeit leistet. Die Marschrutka fährt erst später los, sein Taxi fährt aber gleich, fährt schneller und kostet kaum mehr pro Person, es spricht also nichts dagegen, wir willigen ein. Sein Taxi ist nicht der leere Nissan, den er per Fingerzeig bei seiner Argumentation gestikulierte. Wir gehen zur anderen Straßenseite, dort steht ein Mazda-SUV, zwei Rückbänke. Der Wagen scheint schon voll besetzt zu sein, aber der Gedanke, dass wir eine falschen Entscheidung getroffen haben könnten, dringt nicht schnell genug ins Bewusstsein vor, unsere Rucksäcke passen irgendwie in den viel zu kleinen Kofferraum hinter der letzten Rückbank und sind schnell verstaut.

Passt doch - Sieben Reisende auf fünf Sitzen

Passt doch – Sieben Reisende auf fünf Sitzen

Es wird Tetris gespielt. Ein Junge sitzt auf einem Brett, welches zwischen die beiden vorderen Sitze gelegt wird. Ein anderer Junge kommt auf den Schoß der Mutter, schon ist die hintere Rückbank frei für dreie, die sich aneinander quetschen, denn konzipiert wurde dieser Sitz nur für zwei Mitreisende. In dem Siebensitzer haben nun also zehn Leute samt Gepäck Platz gefunden. Die Fahrt geht völlig überladen los. Jeder einzelne Rückenwirbel gibt Auskunft über den miserablen Zustand der Straße und das nicht mehr vorhandene Spiel der Federung. Schlafen unmöglich, sitzen schmerzvoll. Zweihundert Kilometer lang beschäftigt uns nur ein Gedanke: Warum haben wir uns nicht rechtzeitig diesem Transport verweigert?

Von wegen Schlafen unmöglich

Von wegen Schlafen unmöglich

Bokonbajew empfängt uns mit Regen und langsam nachlassenden Rückenschmerzen. Unser schwuler chinesisch-malaysischer Freund fährt weiter Richtung Bischkek. Das Hostel ist nicht weit entfernt und empfängt uns auf den ersten Blick mit den freundlichen Worten: „So, ihr Zweie, erholt Euch erst mal“. Der erste Blick wird bei Eintritt bestätigt; Mutter, Vater, fünf Jahre alte Tochter, Garten, Hühner, Hofhund und vier Räume, aus denen wir frei wählen können.

Die Tochter des Hauses

Die Tochter des Hauses

Die Betten sind weich, die Küche ist groß, es gibt kein Internet, vielleicht das größte Qualitätsmerkmal im neuen Domizil. Ein britisches Pärchen sitzt bereits in der Küche und wird mit Tee und Marmeladenbrot bewirtet. Wir setzen uns dazu. Die beiden sind mit dem Fahrrad unterwegs. Ihre Reise ist für ein ganzes Jahr geplant. Keine Wohnung, den Job haben sie gekündigt, sie sind aus Malaysia bis hierher geradelt, das Ziel ist Wales. Sie will ein Reisebuch schreiben, er schreibt auch, weiß noch nicht genau, was es wird. Weil es stark regnete, hatten sie sich überlegt, hier im Hostel zu übernachten.

Ein Jahr lang Fahrräder und Zelt

Ein Jahr lang Fahrräder und Zelt

Meistens schlafen sie im Zelt, Hostels sind ein Luxus, den sie selten nutzen. Außerdem müssen sie schnell nach Bischkek kommen. Der Bruder heiratet nächste Woche, also fliegen sie von Bischkek nach Wales um bei der Hochzeit dabei zu sein, danach fliegen sie wieder zurück nach Bischkek. Wir lachen zusammen über diese Reiseunterbrechung, es gibt halt Dinge, die einen in den Alltag zurückzwingen, Hauptsache, man kommt schnell genug wieder weg. Bei Pelmeni und Kognak wird es ein langer Abend mit Gesprächen über Great Britain, Deutschland, Zentralasien und die Welt an sich.

Zwei Briten, Drahtesel, Gepäck

Zwei Briten, Drahtesel, Gepäck

Bokonbayevo ist ein gerade mal hundert Jahre alter Ort, der von der Tourismusindustrie noch nicht entdeckt wurde, jedoch dem Individualtourismus bereits jetzt alles bietet, was der Reisende benötigt. Die Bevölkerung der Kleinstadt kennt den Fremdenverkehr bereits als Einnahmequelle. Kinder grüßen und wollen die Hand schütteln, fragen frech nach Geld. Stark angetrunkene Opas grüßen auf ähnliche Weise. Der Rynok ist klein, es gibt fast nur Klamotten, typische türkische Imitatware. Daneben der Rynok mit dem Gartengemüse, sehr große, sehr scharfe Radieschen.

Es gibt sogar eine Kreuzung

Es gibt sogar eine Kreuzung

Der bisher vom Pauschaltourismus noch nicht entdeckte Vorteil dieser Stadt ist die Lage. Die Entfernung zwischen der über 4000 Meter hohen Bergkette und dem Yssykköl-See, samt perfektem Sandstrand, ist gering. Uns ist klar, wenn ein Investor mit ein paar Millionen einsteigt, bauen wir hier die perfekte Touristenanlage, geeignet für die Winter- und die Sommersaison und auch für die dazwischen.

Strand und Berge

Strand und Berge

Der Sandstrand kann mit Kiosken und Umkleiden aufgepeppelt werden, Eine Seilbahn müsste in den Hang gebaut werden, ein, zwei Pisten und jede Menge Tiefschneegebiet, vielleicht Heliskiing. Genug Land gibt es, um es mit Bettenburgen zu bebauen. Scheiss auf die Idylle des armen Städtchens, die verstecken wir hinter hohen Blechzäunen. Sotchi könnte einpacken.

Die Straßen der Stadt sind sauber, die Läden aufgeräumt, Ein Weltkriegsdenkmal, ein Panzer zur Erinnerung an den Afghanistan-Krieg, auf einem Sockel mit der Liste der dort gefallenen Einwohner. Lenin steht auch noch in zukunftweisender Pose, wir entdecken ihn zu spät, als wir bereits in der Marschrutka sitzen und abreisen. Ein paar Straßenecken weiter Manufakturen. In einer wird aus ökologisch korrekter Schafwolle kirgisische Folklore hergestellt, uns werden Manufaktum-Kataloge mit ihren extrem hohen Preisen für den deutschen Markt gezeigt, gerade werden Jurten vorproduziert, für den Export nach Deutschland.

Manufaktur mit internationalen Geschäftsbeziehungen

Manufaktur mit internationalen Geschäftsbeziehungen

In diesem Sommer wird hier ein Jurtendorf entstehen, in welchem die Touristen ganz urig kirgisisch Urlaub machen können. Es gibt deutsche Faltflyer im Blocksatzstil der Neunziger, Texte teilweise nicht lesbar vor der Hintergrundgrafik. Beschreibungen und Preislisten, sehr günstig. Der Flyer hinterlässt den Einruck von ersten stolpernden Gehversuchen, das ginge natürlich besser:

Kirgistan – ein von Pauschaltourismus noch nicht vergiftetes Land.

2 Gedanken zu „Bokonbayevo

  1. Die Welt wird klein, hier in der Küche von Oma und Opa beim Lesen eurer Texte. Opa kann nicht fassen wo sein Enkel sich so rumtreibt;) liebste Grüße

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