Eine unverarbeitete Geschichte

Blick hoch zum Konferenzgebäude des Genozide Museums

Blick hoch zum Konferenzgebäude des Genozid Museums

Wie soll man den Mord an zwei Millionen Menschen begreifen können? Wie soll man nachvollziehen, was solch eine Tragödie bei Verwandten, Bekannten, Überlebenden ausgelöst hat? Wie kann man diese Geschichte kurz und zusammenfassend erläutern, wenn sie eben nicht nur mit der Leugnung durch die Türken und dem Gedächtnis der Armenier zu tun hat, sondern auch mit den damaligen weltweiten politischen Verstrickungen, in deren Konsequenz das Töten von über zwei Millionen Armeniern, Assyrern und Griechen als Kollateralschaden hingenommen wurde? Da ich selbst zu einem Tätervolk gehöre, das auch auf Grundlage und mit den Erfahrungen und Berichten dieses Genozids seine noch brutalere und bedingungslosere Vernichtung von Leben veranstaltete, darf ich dann diesen thematischen Einstieg zum Vernichtungsplan der Jungtürken vor 99 Jahren schreiben?
Mir bleibt nichts übrig, als zu schreiben, ohne eine der Fragen beantworten zu können:

Eingangsbereich

Eingangsbereich

Ende des 19. Jahrhunderts war das Osmanische Reich politisch und wirtschaftlich völlig rückständig im Vergleich zum industrialisierten und sich langsam demokratisierenden Europa. Besonders dem aufkeimenden europäischen Nationalismus hatte das Riesenreich kaum etwas entgegenzusetzen. Bereits ab 1850 gab es Ansätze, den Staat neu zu konsolidieren. Im theokratischen System begann eine Säkularisierung, die besonders in wirtschaftlich- technischer Hinsicht Früchte trug. Hochverschuldet in Europa und auf dessen technische Unterstützung angewiesen, gab es aber kaum eine staatliche Souveränität. Der 1876 ins Amt gehobene Sultan Abd-ul Hamid forderte von Armee, Brigaden und Spionen das sofortige Eingreifen bei Aufständen. In vielen Provinzen gab es in der Folge erste blutige Progrome, bevorzugt an den Armeniern. Meist aber nicht infolge von wirklichen Aufständen, stattdessen wurden diese von lokalen Machthabern vorgegaukelt, um sich besser stellen zu können oder um sich zu bereichern. Es gibt zahlreiche Berichte über die Auslöschung ganzer Stadtteile, aber nur spärliche von Aufständen oder Unruhen. Das armenische kulturelle Erbe ist bis heute höflich, leise und gewaltlos. Bereits bis zur Jahrhundertwende starben durch die Gewaltanwendung türkischer Beamter 300.000 Armenier. Bereits 1902 veröffentlichten der Sozialdemokrat Eduard Bernstein und der Pfarrer Otto Umfried das Buch „Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas“. Europa kannte also die bereits geschehene Gräuel, Abd-ul Hamid hält sich jedoch nur in der verkitschten europäischen Erinnerung als der grausame Herrscher im Orient, seine Unfähigkeit, das Reich zusammenzuhalten und zu reformieren, führen zu seiner Absetzung 1909.

"Mutter erhebt sich aus der Asche" - Statue zur Erinnerung an jene, die im Genozid 1915 umkamen, ihn überlebten und vor ihm flüchteten. (2001)

“Mutter erhebt sich aus der Asche” – Statue zur Erinnerung an jene, die im Genozid 1915 umkamen, ihn überlebten und vor ihm flüchteten. (2001)

Die Armenier schweben in dieser Zeit zwischen dem Protektorat des russischen Zarenreichs und den Ausschreitungen des osmanischen Staates, ohne feste Grenzen bei ihrem heiligen Berg Ararat, der allein in die Höhe ragt und auf dessen Gipfel Noahs Arche aufgelaufen sein soll. Ansonsten führen sie ein assimiliertes Leben in türkischen Städten, bestimmt schon auseinandergesetzt mit dem inzwischen aus Europa importierten Rassismus. Die bis dahin von Hamid unterdrückte jungtürkische Bewegung konsolidiert sich als neue Führung des osmanischen Reiches.
Eine erste Amtshandlung der Jungtürken besteht in der Ausrottung der streunenden und friedlichen Hunde in Istanbul. Der Vorschlag eines französchen Wissenschaftlers, sie in Gaskammern zu töten, wird nicht umgesetzt. Stattdessen werden sie eingefangen und auf einer kleinen Insel ausgesetzt, auf welcher sie jämmerlich verhungern.
Gleichzeitig werden in Adana, Kessab, Latakia, Bazit und Antiochia tausende Armenier getötet und in den Fluss geworfen. Seeleute eines französischen Kreuzers berichten: „An der Küste sieht man nun schon, daß sie auf dem Wasser treiben, weil die Strömungen sie herantragen, und auf den europäischen Kriegsschiffen kann man beobachten, wie sie langsam, verstümmelt und aufgebläht, am Bug vorbeiziehen …“
Während Leo Trotzki anfangs die jungtürkische Bewegung als revolutionäre Kraft einschätzte, hatte er wohl schnell feststellen müssen, dass mit dem Import des in Europa stark verbreiteten rassistischen Gedankenguts die Morde des abgewirtschafteten Osmanischen Reiches sich wiederholten.
Drei Männer aus der jungtürkischen Bewegung hatten 1914 die absolute Macht im Osmanischen Reich. Der Innenminister Talaat Pascha, der Kriegsminister Enver Pascha und der Marineminister Dschemal Pascha. Sie nannten sich „Komitee für Einheit und Fortschritt“. Der Panturanismus setzte sich unter ihnen schnell als Ideologie durch. Der Rassismus, auf Blut und Boden für die Türken begründet, erstickte viele liberale und revolutionäre Hoffnungen. Gleichzeitig ist es die Geburt der Türkei. Der erste Weltkrieg beginnt und das Deutsche Kaiserreich pflegt beste Beziehungen und Bündnisse mit dem neuen Land. Während ganz Europa mit seinem Stellungskrieg beschäftigt ist, wird der Genozid vorbereit, den die Türkei bis heute verleugnet. Im ersten Schritt werden armenische Kulturschaffende, Geschäftsleute, Ärzte, Journalisten und Beamte verhaftet und umgebracht.

Die ewige Flamme

Die ewige Flamme

Der amerikanische Botschafter Henry Morgenthau konsultierte Innenminister Talaat Pascha und sprach ihn auf die Armenier an. „Warum interessieren Sie sich für die Armenier?” fragte dieser. „Sie sind doch Jude, und diese Leute sind Christen.” Die rassistische, menschenverachtende Argumentation gehörte bereits unverblümt zur Staatsräson.
Es wurde die Spezialorganisation „Teskilat-i-Mahsusa“ gegründet, welche sich großteils aus Häftlingen rekrutierte, die sich mit der Entlassung verpflichteten, jedem Befehl zu folgen, dafür aber straffrei ihre befohlenen Taten begehen konnten.
Der Genozid beginnt und es werden Informationen verlangt: „Wurden die gefährlichen Elemente massakriert oder lediglich aus den Städten vertrieben und deportiert? Teile es mir klar und deutlich mit, mein Bruder!” erkundigte sich Doktor Behaeddin Schakir Bey, Absolvent der Kaiserlichen Medizinischen Fakultät und nun Sonderbeauftragter in Sachen Armenien. Ab dem 24. April 1915 gibt es kein Halten mehr. Die Berichte von ausländischen Beobachtern zeigen, wie ungläubig und abgestoßen sie den Morden zusehen. Nach der Ermordung der armenischen Elite werden die armenischen Männer, meist Zwangsarbeiter in der Armee, ermordet. Es gibt Übergriffe in allen Ecken des Landes, Leichenberge. Übrige armenische Männer, Frauen und Kinder werden auf Gewaltmärsche durch das Land geschickt, von Klippen gestürzt, in Höhlen getrieben und ausgeräuchert, auf Schiffe getrieben und versenkt. Innerhalb kürzester Zeit sind weitere 1,5 Millionen Armenier tot. Der neutürkische Rassismus hat eine gesamte Kultur und seine Menschen so gut wie ausgerottet. Die Welt hielt sich aus dem Genozid raus, zu stark waren die Bestrebungen, selbst Anteil am Aufbau und am Profit der Türkei zu haben. Russlands Protektorat gab es nur noch auf dem Papier. Für die Verteidigung der bolschewistischen Revolution wurde das Militär aus dem unter seinem Schutz stehende Armenien abgezogen.

Blick von den Cascaden auf Yerevan

Blick von den Cascaden auf Yerevan

Im nächsten Jahr begeht Armenien den 100. Jahrestag der Gräueltaten. Das Land musste hart bezahlen für die Machtspiele einer Welt, an denen es selbst nie teilnahm. Es wäre angemessen, wenn auch kaum vorstellbar, dass die türkische Regierung als Zeichen der Erkenntnis und Reue diesen Jahrestag mitbegeht. Deutschlands Geschichte fußt auf einer unvorstellbaren Menge Blut, dass die Welt hat fließen lassen müssen. Die Gräueltaten Nazideutschlands haben andere und unvergleichbare Dimensionen. Wir dürfen es nicht zulassen, dass wir uns dieser Schuld nicht bewusst bleiben. In seiner Obersalzbergrede vor der Wehrmacht nutzte Adolf Hitler explizit den Genozid als Argument für das strategische Töten, welches unter seinem Befehl in den folgenden Jahren Europa heimgesucht hat: „So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“
Ich wünsche Armenien einen weiteren, unblutigen und erfolgreichen Gang in der Welt und freue mich, wenn es sich seine freimütige und freundliche Gesellschaft erhält, die ich fünf Tage lang erleben durfte.

Vielen Dank an Adam J. Sacks, den wir im Hostel in Yerevan trafen. Er hielt im Genozid Museum in Yerevan Vorträge und diktierte mir an einem Abend derart viele Quellen, Namen und Zusammenhänge, dass sie für ein kleines Buch reichen würden. Bestimmt wird mein kleiner Artikel nicht seinem Wunsch nach einer wirklich ausführlichen Information über die Gräuel gerecht.

Links:
www.genocide-museum.am/eng/
www.genocide-museum.am/eng/conference-2014.php
de.wikipedia.org/wiki/Völkermord_an_den_Armeniern

2 Gedanken zu „Eine unverarbeitete Geschichte

  1. I fully appreciate your laudable and admirable entry, but the ambitious effort to account for the entire decline and collapse of the late Ottoman Empire, leaves important details of the Genocide itself left unsaid. First of all, only “Pontic” Greeks, those of east Anatolia, fell under as targets of the extermination campaign of young Turks. Considered ethnically distinct from other Greeks by many scholars, they like the Armenians and Assyrians constituted historically Christian peoples, that in the Ottoman Millet system, fused religion with nationality and ultimately racially motivated aggression. Unique among the three, Armenians had enjoyed some form of self-government (1 kingdom in the classical period and 3 in the medieval period). The 6 eastern vilayets (or provinces) of the Ottoman Anatolia were considered unofficially Armenia, as they lay on the grounds of the aforementioned Armenian kingdoms. Thus not only did the genocide occur on the historic homeland of Armenian, it has been followed by an ongoing second crime, the attempt to erase this history from the map and record of the earth. This has been further followed up by a geopolitical context that has seen Turkish support military engagements that continue to target Armenian civilians, whether on the Azeri border or in Kassan in Syria. Finally the issue of German co-responsibility (mit-schuld) for the Genocide is no longer debated in the abstract but rather as to its extent and dimension. After the train used to deport those Armenians who could pay, the Berlin-Bagdhad railway, was financed by Deutsche Bank and supervised by German engineers. Though many Germans protested, even prevented deportations, as in the case of General Liman von Sanders in Smyrna, no other country had the power to stop the genocide and no other power provided asylum to the perpetrators after the genocide, but Germany. Furthermore, as Germany has the largest population from Turkey outside of Turkey, for whom integration, development and democratization into German civil society has proved schleppend, to state it diplomatically, one may hope that education, discussion and awareness prevention on the Armenian Genocide should hold a key place in furthering the advancement and progress of both German and Turkish civil society.

    1. Adam, thanks a lot for your comment! Those details have to be told if we try to find a way to explain the evolution of genocide on a background named Armenia. There are many undiscussed issues of stupidity and blood, guilt and sacrifice. The evolution of media, that connects the whole world in seconds, could be a way out.

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