Georgien- Stakkato

DSC02498Deutsche Rentner schälen sich in Touristenuniform aus dem Reisebus. Der Musikant beginnt zu spielen, der Reiseleiter animiert zum Tanzen, jeder so, wie er noch kann, verordnete Fröhlichkeit zu Seemannsliedern. Schlange vorm Souvenierstand, Omas betteln. „Urig hier! Wie alt die Kirche wohl sein mag? Ob es hier auch Geckos gibt?“ Der Reiseleiter versteht die Frage nicht, der Fahrer wendet schon mal den Bus, das Panorama entzückt nur am Rande und verschwindet im Zeitplan.

Tbilisi von ganz weit oben

Tbilisi von ganz weit oben

In der Billardbar muss die russischsprachige Mitarbeiterin erst aus dem Keller geholt werden, eine englischsprachige war nicht zu finden. Beim Imbiss helfen nur Hände und Füße, Nicken und Zucken, wir sprechen kein Georgisch, der Koch nichts anderes. Einer mag das dumm finden, ein anderer konsequent. Vor der Bar: Treffen der Halbstarken. Tragen Sonnenbrillen, wenn sie mit Mädchen reden, spucken beim Rauchen, hochgestellter Kragen, Rasierklingen zwischen Armen und Beinen, Sportauspuff oder wenigstens ein Loch im Schalldämpfer, schön durchdrehen lassen, tiefe Stimme, nur in der Erregung nicht. Die Sneakers hat Mutti bezahlt.
Die knöchrigen Hände alter Frauen, Gesichter vermummt aus Scham, drei Hosen übereinander, recken sich bettelnd und zitternd vor Kirchen und teuren Läden zu mir. Ein Schild am Becher beschreibt ihr Schicksal. Bitten wie Gebete. Eine Mutter fleht mit ihrer Tochter auf dem Arm, das Kind ahmt die Mutter nach, ich werde traurig, schaue weg, gebe nichts, wie so oft, wie immer. Eine bucklige, stumme Behinderte kauert in immer derselben Stellung an der Hauswand, ein schwarzer Fleck, wo ihre Haare sind. Wie kommt sie dahin, wie kommt sie wieder weg? Ich vermute ein Geschäft dahinter. Der Hund eines Bettlers hat einen Trinker gebissen, schlagen, treten, schreien, Kleingeld fliegt, der Bettler kann den Hund nicht beschützen, aber er versucht es, er hat sonst niemanden.
Wachdienst, Sicherheitspolizei, Militärpolizei, in Ladas, in Geldtransportern, auf Klapprädern – halbseidene, ununterscheidbare Uniformen; inflationär-unverständlicher Gebrauch von Blaulicht, wenn das nicht hilft – Lautsprecherdurchsage aus dem Auto: „Weg da! Platz da!“
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Der Fußweg gehört den Straßenhändlern, jeder verkauft, was er hat und kann. Taschentücher, Reisig zu Besen gebunden, Tomaten, Gurken, Bananen, Zigaretten, Fliesen, Ikonen, Brot, Second Hand. In Läden arbeitet entweder keiner oder gleich fünf Leute mit nebulösem Tätigkeitsbereich. Viele haben keine Arbeit, alle ein Handy. Der schwere, schwarze Rock der Frau, die eigentlich nur aus Arsch und Oberlippenbart besteht, lässt keinen Blick auf das Darunter zu, wenn sie auf einem kleinen Hocker auf dem Fußweg breitbeinig und lautstark ihre Waren anpreist. Schöne Waren feil, schöne Waren feil!
Reiche Menschen dick und blass, so auch ihre Kinder. Viel PS, viel AMG, OPC, M, TT, viel YSL; schöne Frauen Arm in Arm mit ihrem dicken Mann, hässliche ein Stück dahinter.  McDonalds-Tüten als Statussymbol. Arme Menschen gebräunt, von Geburt an oder durch Arbeit im Freien. Karrenschieber, Bauern, Tagelöhner, Kartenspieler, Straßenfeger, Betrunkene schreien liegend im Dreck, verwirrte Gläubige spucken auf Mädchen mit kurzem Rock. Die „Mitte“ sieht zu, dass sie vom Wahnsinn nicht verschlungen wird. Beschiss an jeder Ecke, Touristen kommen eh nicht wieder, geraucht wird überall und ab 12 Jahren, feste Preise Fehlanzeige, alles rausholen was geht.
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Zusammenbruch, der Chaos schaffte und eine selbstbestimmte Gesellschaft formt, die fast jedem Versuch staatlicher Regulierung widersteht, Normen müssen noch entstehen. Vielleicht sehe ich sie nur nicht. Oder sind sie überflüssig? Hupen statt Ampeln, Drängeln statt Regeln, Verbrennen statt recyceln, Gebell statt Alarmanlagen, Fußgängerüberwege und Parkordnung als täglicher Sarkasmus, Bekreuzigen vorm Straßenwechsel. Märkte in Kirchen, Beete in Ruinen, Wohnungen in Fabriken. Dazwischen glänzender Neubau. Oder nichts. Jeder denkt an sich, ohne dem anderen böses zu wollen.
Eine Regierung, die nicht verhindern kann, dass die Grenzen zu Russland mal wieder ein paar Dörfer weit zu ihren Ungunsten verschoben wurden – keine Landkarte kommt da noch mit. Beschiss beim European Song Contest. Ossetien und Abchasien sind schon weg, ein vergessener Krieg, viel Leid wird ignoriert, was bringt es auch?

2 Gedanken zu „Georgien- Stakkato

  1. Ahoi und Priwjet,
    ohne “Stalin” kein Nagellack und kein Einkommen als Museumsoma!

    Keine stolzen und liebenswerten Menschen, nur weil der “Westen” unerreichbar?
    Keine Gastfreundschaft, nur Touristenrummel und Geschäftemacherei?

    Wodurch unterscheidet man sich, wenn man keine Touistenuniform trägt?
    Bis denne …

    1. Hallo Atjetz, um Gastfreundschaft zu finden, muss man auf Leute zugehen und ihnen vertrauen. Touristen zeigen sich nicht nur durch ihre Uniform. Ein Zimmer im Zentrum Tbilissis anonymisiert und zeigt erstmal, das Städte lauter als Berlin sein können. Nicht alle georgischen Erlebnisse sind bisher im Netz und diese beiden Artikel sind stark geprägt vom Clash of Cultures, der sich in unseren Köpfen abspielt. Das “Read Cafe” wird einen anderen Text hinterlassen, braucht aber noch Recherche.
      Achso, und es gibt ein Video, das zeigt wie aufgeschlossen und freundlich Georgier sind, aber das ist für die Hauslese vorgesehen, am 30. Mai, 19:30 bei ROK-TV, in der Grubenstraße 47 in Rostock, oder ab 20:00 im TV.

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