hntrlnd » Kopftücher http://www.hntrlnd.de Lenin, Leute, Brot und Spiele Fri, 27 Jun 2014 19:11:05 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.8.1 Elektritschka-Epilog http://www.hntrlnd.de/?p=899 http://www.hntrlnd.de/?p=899#comments Tue, 27 May 2014 05:07:02 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=899 In der Elektritschka

In der Elektritschka

Egal wie man sitzt, liegt, lehnt, es dreht und wendet das Gesäß – nach einer Stunde schmerzt es auf hart-lackierten Holzbänken. Belustigte Blicke der Fahrgäste neben uns, durchs ständige Ändern der Sitzposition als Unkenntlicher entlarvt.

Rumpeln der Schienen, rhythmisch-abrupt, Schleifen der Bremsen, Klappern der Fenster und Türen, der Luftzug tut gut, Elektromotoren summen leise und alt, die Lok pfeift kurz vorm Bahnhof, kaum Zeit zum Aussteigen, den Kopf aus dem Fenster, Fliegen und Staub in den Augen. Geschwätz, Gelächter, Gejohle, ob man sich kennt oder nicht, Kinder wechseln die Schösse, Taschen die Hände. Und mittenmang das immer wiederkehrende Ersatzgebet der Lobpreisungen der Verkäuferinnen im Gang. Wasser, Ayran, Samsa, Kleinkram, Zeitungen, was darf es sein? Die ganze Familie ist eingespannt, Oma, Mutter, Tochter, die Stewardessen eines Vorortzuges in Usbekistan, in dem eine Fahrt keinen ganzen Euro kostet.

Die Kleider der Frauen aufwändig im Muster, praktisch im Schnitt, oft an der Hüfte gebunden, mal mit Tasche vorm Bauch, mal mit, mal ohne Arm, doch nie zu kurz an den Beinen. Wenn doch, dann mit Stoffhose ergänzt, auch ein Kopftuch über den schwarzen Haaren darf nicht fehlen, wohl aber aus Gründen der Temperatur, nicht der Religion.

Drei Schaffner sortieren das Geld für die Fahrkarten blind mit geübter Hand. Einer mit dreien, zwei mit zwei Sternen auf hellblauem Schulterstück, die Uniform des Dicken ist am stärksten verwaschen. Der mit drei Sternen nimmt das Geld und die Provision der Verkäuferinnen und steigt als erster der drei auf dem Heimweg aus. Die anderen bekommen Brot, Eier, Tomaten, Salz und essen im Zug. Man stößt an und prostet sich zu, das Wochenende naht, die letzte Fahrt endet in froher Erleichterung.

Kühe, von Jungen gezogen, geschoben, bewacht. Ist keine Kuh zur Hand, wird ein Reifen geschleppt, ein Fahrrad geschoben, im Schatten gesessen, Müll auf kleinen Haufen verbrannt, die Asche mit Stöcken geschürt und verteilt, das Feld bestellt, der Mutter den Einkauf getragen. Trinker schleppen sich durch hüfthohes Unkraut, schlafen am Bahndamm, tot oder lebendig. Zäune, Mauern, blinde Fenster, Zisternen, Gärten, Fabriken und Unrat wechseln sich ab mit versiegelter Erde, gemeinhin Beton genannt. Alles zieht vorbei im gemächlichen Takt der Elektritschka, wer nimmt diese Schönheit noch wahr? Die Stadt kündigt sich an durch Werbung und Hochhäuser.

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Ostern am Schwarzen Meer http://www.hntrlnd.de/?p=353 http://www.hntrlnd.de/?p=353#comments Mon, 21 Apr 2014 06:35:36 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=353 odessatext_01

Babuschkas und Bisnes

Alexandr versicherte uns, er habe eine Ersatzwohnung, die noch besser sei, als die, welche wir gebucht haben; wir haben uns 10:00 Uhr bei der Adresse verabredet. Also warten wir vor dem Eingang zum Ersatzdomizil. Ein orthodoxer Jude spaziert an uns vorbei, seine beiden kleinen Töchter rechts und links an der Hand. Vor dem Laden “Make My Cake” (hier gibt es individuellen Kuchen, Coffee-to-go und Klimbim) steht das perfekt gestylte Hipster-Bike. Entsprechender Zopfträger nippt am Kaffee und touchscreent dabei sein Smartphone. Ein Asiate telefoniert im Vorbeihetzen in asiatischer Sprache. Wenig später drei Jugendliche, die sich auf arabisch verständigen. Innerhalb einer Minute begegnen sich verschiedenste Kultursphären und bilden Alltag. Zweie sitzen auf dem Bordstein, die Rucksäcke lehnen an einer Platane.

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Odessas Straßen

Als er uns entdeckt, ist Alexandr aufgelöst und erschüttert und redet auf uns ein: “Ja dumal wui parui. Wam nado dwuch komnatnui kwartir, prawilno?” Er würde eigentlich nicht zwei Männer in einer Einzimmerwohnung unterbringen. Er hätte uns falsch verstanden und uns für ein Pärchen gehalten. Sofort telefoniert er herum, bekommt aber keine Zusage für eine andere Wohnung. Wir verständigen uns darüber, dass er uns erstmal die Pärchenwohnung zeigt. Sie ist gut saniert und sauber, ein ausgezogenes Riesensofa bildet das Zweierbett, der Fernseher läuft bereits aus irgendeinem Grund. Wie bei allen ukrainischen Sendern sieht man in der einen Ecke des Bildschirms das jeweilige Logo, in der anderen Ecke weht die ukrainische Fahne, darunter wechseln die Slogans “Eine Ukraine!” und “Ein Land!”. Wir haben die Lautstärke des Boilers und des Hinterhoflebens noch nicht mitbekommen und sagen, dass wir die Wohnung nehmen.

Schwarzmeeridylle am Betonstrand

Schwarzmeeridylle am Betonstrand

Odessa ist Urlaub pur, das Wetter ist perfekt für den ersten Sonnenbrand. Das jüdische Viertel in welchem wir wohnen ist wie die gesamte Innenstadt in quadratische Karees aufgeteilt. Die Straßen sind riesige Alleen. Die reich verzierten, maroden Fassaden der Häuser scheinen auf eine noch zu erfindende Technologie zu warten, welche es ermöglicht, zu sanieren und gleichzeitig die Verzierung zu erhalten, anstatt sie mit Dämmmaterial zu überkleben und einheitlich zu verputzen. Da es weder Super-, noch Baumarktketten gibt, findet man zwischen den “Produktui”-Tante-Emma-Läden auch gleichkleine Läden, die Fenster und Türen verkaufen. Bewohnt bedeutet längst saniert, was man an den Alu-Plastik-Rahmen der Fenster erkennt. In vielen Ecken ragen Wohnwolkenkratzer aus dem altehrwürdigen Stadtbild hervor. Der Plattenbau ist mitsamt seinen Produktionsstätten längst privatisiert, Architekten haben das sozialistische Einheitsbild der Platte überarbeitet. Fertigwände werden neu gestylt und als Luxuswohnungen an die solvente Kundschaft wie geschnitten Brot verkauft. Odessa ist eine schöne, saubere Urlaubsstadt mit einem gut integrierten Mittelstand.

Kirche und Bisnes

Kirche und Bisnes

Es ist Ostersonntag, alle Ruinoks sind geschlossen, wenige Stände verkaufen Körbchen, die zum ostersonntäglichen christlichen Ritual gehören. Für Spätentschlossene gibt es die Körbchen auch an den Ständen vor den Kirchen zu kaufen. Die halbe Stadt prozessiert in Familiengruppen, mitsamt von bestickten Handtüchern bedeckten Körbchen zur Kirche des Vertrauens, wo sie dann die Dinge machen, die Atheisten wie uns für immer unerklärlich bleiben werden.
Die Demut, mit welcher die Besucher ihren Prozeduren in den Kirchen nachgehen, hat für mich schon fast etwas Unanständiges. Das liegt bestimmt nicht nur an dem kurzen Rock der bekopftuchten jungen Frau, die nach mehrmaligem Bekreuzigen zärtlich und selbstvergessen ihre Lippen kurz auf ein Heiligenbild drückt. Hinter einem Stand in einer Ecke der Kirche stehen Mönche und verkaufen Kunstdrucke von Ikonen an die in Schlange stehende Kundschaft.

Hinter dem Bahnhof

Hinter dem Bahnhof

Die Straßen sind so gut wie leer und nur der konfessionslose Rest schlendert die Alleen entlang. Auf dem Weg zum Bahnhof sind wir ein paar Straßen weiter gegangen. Hier, in der Nähe der Schienen, kümmert sich niemand um Ostern. Die Straßen sind verstaubt und arm. Jeder geht seinem Geschäft nach, so gut es geht. Straßenbahnen kurven über Gleise, denen man keinen Halt mehr zutraut. Jemand hämmert geduldig rostige Eisennägel aus den Bohlen, weicht nur kurz einer vorbeifahrenden Straßenbahn aus und von seiner fragwürdigen Arbeit ab.
In Odessa ist es vorstellbar, dass man sich in Städte verlieben kann. Die Ehrlichkeit eines Zusammenlebens von grundlegend Verschiedenem zieht mich an. Man darf mir Urlaubsromantik unterstellen, berechtigterweise. Denn das bin ich, ein Urlauber, der keine Ahnung vom hiesigen Alltag hat. Zwei uniformierte, nichtstaatliche Milizen eilen aus einem Hinterhof über die Straße und steigen in einen Lada. Bei dem Einen hängt lässig eine Kalaschnikow zwischen Hüfte und Arm. Ich mache kein Foto. Ich bin lieber feige.

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Der Versuch, zu verstehen http://www.hntrlnd.de/?p=296 http://www.hntrlnd.de/?p=296#comments Thu, 17 Apr 2014 19:13:44 +0000 http://www.hntrlnd.de/?p=296 Das dritte AugeAls ich versuche, die Oper der Stadt in meine 50mm Festbrennweite zu stopfen, was an ihrer schieren Größe und der Starrheit meines Blicks scheitert, werde ich angesprochen. Erst auf ukrainisch, ich verneine nett in russisch. Dann in russisch. Ich verneine wieder. Dann polnisch. Dann englisch. Jetzt verstehe ich. Ein „Guide“ bietet uns seine Dienste an, die ich nach kurzem Verhandeln auch annehme.
Was ich lerne:
Lviv hat ca. 800.000 Einwohner, die sich in einer der über 100 Kirchen und Kathedralen der Stadt die Segnung in diversen Glaubensrichtungen abholen können. Ukrainische Katholiken, armenische Christen, Kopten, Russisch-orthodoxe, Griechisch-Orthodoxe und noch viel mehr. Mein atheistisches Verständnis reicht in Glaubensfragen aber nicht sehr weit, muss ich zugeben. Eins verstehe ich: Die Stadt ist seit Jahrhunderten ein riesiger Schmelztiegel aus Religionen und Ethnien, die sich vermischten oder auch nicht, die sich vertrugen oder auch nicht, die sich gegenseitig umbrachten oder auch nicht. Besonders bemerkenswert sind die Armenier, die sich ab dem 14. Jahrhundert erfolgreich in Lviv etabliert hatten, mit eigener Rechtsprechung, einem eigenen Viertel, einer eigener Akademie. Heute sind davon nur noch gepflegte Reste vorhanden. Ob das mit dem Genozid durch die Türken zu tun hat oder mit dem Stalinismus, mag ich nicht beantworten, bevor ich nicht in Armenien war. Vorm 2. Weltkrieg gab es zudem eine große jüdische Gemeinschaft; von den ehemals 100.000 Juden sind heute alle tot oder weggebracht und nie wieder zurückgekehrt. Was bleibt, ist eine Ruine und ein Restaurant, was zwar nicht koscher kocht, aber immerhin eine Menora am Eingang stehen hat. Vielleicht ist der Kellner ja wenigstens beschnitten.

Reste der jüdischen Synagoge Jüdisches Graffito in Lviv Vor Ostern wird geputzt! Armenische Kirche Geister kennt doch jeder Hallo Echo. Weiß, die Farbe der Reinheit Blau, die Farbe der ukrainischen Katholiken

Im besten Hotel der Stadt soll mal der Schah von Persien für eine Woche mit seiner Familie untergebracht worden sein. Als es ums Bezahlen des eigens für ihn geräumten Hotels ging, schlug er vor, statt Geld eine Auszeichnung zu verleihen. Daraufhin brach wohl die gesamte Führungsetage des Hotels in Geheul aus. „Bloß keine Auszeichnung, wir wollen lieber Geld!“

Als ich zum Schluss noch ein wenig rumkumpeln will und mich auf russisch bedanke, bekomme ich mit einem scharfen Lächeln unseres Guides Igor die ukrainische, korrekte und gewünschte Variante genannt, die ich mir aber leider nicht merken konnte, lediglich einmal nachplappern. Wenn mal jemand einen guten Guide in Lviv braucht: hier gucken

Was ich selbst sehen konnte: In Lviv finden sich keine Windräder, keine Solarzellen, keine Fahrradfahrer (außer ein paar Jugendlichen, die ihr Fahrrad in Abwesenheit eines eigenen Autos mit Baumarkt-Ersatzteilen aufrüsten), keine Supermärkte, keine Vorfahrt für die rostige Straßenbahn.

Es finden sich auch keine adipösen Menschen außer ein paar beleibten Babushkas und Polizisten, und das, obwohl es kein „Bio“ gibt, keine westeuropäische, als modern behauptete Luxusaskese. Während wir nach Wohlbefinden suchen durch Weglassen, scheint sich Gesundheit hier in erster Linie über den Zugang zu Nahrhaftigkeit zu definieren. Es wird in Fett gebacken, Speck wird am Stück gegessen, Transfette werden hingenommen, Fleisch ist gut und billig.
Was sich ebenfalls nicht findet, sind Lenin-Statuen, die ich erwartet hätte. In der gesamten West-Ukraine soll es wohl keine mehr geben nach den „derzeitigen Ereignissen“, wie man das hier nennt.
Dafür finden sich an jeder Ecke Kinder, allein, ohne Eltern, welche um sie rumhelikoptern oder mit dem Smartphone Bilder zum Angeben bei anderen Smartphone-Eltern schießen. Die Kinder spielen einfach so, ohne Internetverbindung, auf Spielplätzen, deren rostige Metallstangen und abgeblätterte Bleifarbe jedem Sicherheitsbeauftragten in Deutschland den Job kosten würde, wenn das nicht sofort abgesperrt würde.

Auf dem Rynok dann alte Frauen, die Milch in gebrauchten Pepsi-Flaschen und selbstgepflückte Blumen feilbieten. 150 Gramm gesalzener Speck für neun, ein Stück Käse für 13, 500 Gramm besten Schinken für 60, ein großes Weißbrot für fünf Griwna. Macht 87 Griwna, also ca. sechs Euro. Das hätte nicht für den Schinken gereicht in Deutschland. Es hätte ihn auch gar nicht gegeben, da er so lecker schmeckt, das muss was drin sein, was bei uns nicht erlaubt ist.

Eins lerne ich dann aber doch noch: Wenn ich frage, ob etwas erlaubt ist, dann ist es verboten. Wenn ich nicht frage und einfach mache, dann ist es zwar immer noch nicht erlaubt, aber keiner stört sich dran.

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